Als Direktor der Wiener Hofoper erhielt Gustav Mahler viele ungewöhnliche Briefe, aber eine solche Fanpost hatte er noch nie gelesen: „Ich habe Ihre Seele gesehen, nackt, splitternackt. Sie lag vor mir wie eine wilde, geheimnisvolle Landschaft mit ihren grauenerregenden Untiefen und Schluchten und daneben heitere, anmutige Sonnenwiesen, idyllische Ruheplätze. […] Ich sah böse und gute Kräfte miteinander ringen, ich sah einen Menschen in qualvoller Bewegtheit nach innerer Harmonie sich abmühen; ich spürte einen Menschen, ein Drama, Wahrheit, rücksichtsloseste Wahrheit. Ich musste mich austoben, verzeihen Sie, mittlere Empfindungen gibt es nicht bei mir, entweder – oder! In aller Ergebenheit, Arnold Schönberg.“
Geprägt von Brahms, tastend zwischen romantischem Überschwang und moderner Knappheit, hatte sich der junge Wiener Komponist mit Mahler zunächst schwer getan – bis er 1904 dessen Dritte Symphonie hörte und diese Zeilen schrieb. Noch fünf Jahre später gestand er Mahler, dass er erst allmählich Zugang zu seiner Musik gefunden habe. Persönlich kannten sich die beiden da schon seit einiger Zeit; Schönberg ging mit dem befreundeten Komponisten Alexander von Zemlinsky im Hause Mahler aus und ein. Mahlers Witwe Alma erinnerte sich an lautstarke Diskussionen am Klavier, denn auch Mahler hatte seine Probleme mit Schönberg: „Es thut mir so schrecklich leid, Ihnen so schlecht folgen zu können; und hoffe auf die Zukunft, wenn ich mal mehr ‚zu mir’ (also auch zu Ihnen) kommen kann“, schrieb er einmal, was ihn nicht daran hinderte, den als radikal gefürchteten jüngeren Komponisten zu fördern. An Richard Strauss schrieb Mahler, er habe von Schönberg einen „geradezu imponirenden Eindruck erhalten“. Strauss reagierte, indem er eine Aufführung von Schönbergs Erstem Streichquartett ermöglichte.
Vielfach kolportiert wurden die Worte, die Mahler als Konzertbesucher dem Störer einer Schönberg-Aufführung entgegenhielt: „Wenn Sie neben mir stehen, haben Sie nicht zu zischen“, heißt es etwa in Arthur Schnitzlers Tagebuch (zischen war damals so etwas wie heute das Buhrufen). Über dasselbe Konzert schrieb eine Wiener Zeitung 1907: „In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirector Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über alle entartete Musik schon längere Zeit führt.“ Hetzartikel wie dieser waren ein Grund dafür, warum Mahler noch im selben Jahr nach Amerika ging. Zum Abschied organisierten Schönbergs Schüler eine Solidaritätskundgebung am Wiener Westbahnhof.
„Ich glaube fest und unerschütterlich daran, daß Gustav Mahler einer der größten Menschen und Künstler war.“
Arnold Schönberg
Während Mahler um ein Verständnis der neuen Musik rang, sah der 14 Jahre jüngere Schönberg in Mahler vor allem ein geistiges Vorbild: „Ich glaube fest und unerschütterlich daran, daß Gustav Mahler einer der größten Menschen und Künstler war“, sagte Schönberg 1912 in seiner „Prager Rede“, die einer Heiligsprechung des im Vorjahr verstorbenen Idols gleichkam. In diesem Tonfall war auch Schönbergs „Harmonielehre“, Mahlers Andenken gewidmet, ohne näher auf dessen Musik einzugehen. Den spürbarsten Einfluss auf Schönberg übte Mahlers subtile Instrumentationskunst aus: Die solistische Orchesterbesetzung der „Wunderhorn“-Lieder findet sich in Schönbergs Kammersymphonie op. 9 wieder; der brillante Einsatz von Tasten- und Zupfinstrumenten in der Achten Symphonie nimmt das Klangbild Schönbergscher Ensemblestücke vorweg.
Am sichtbarsten sind Mahlers Spuren in Schönbergs bildnerischem Schaffen, das Mahler durch den anonymen Ankauf dreier Gemälde unterstützt hatte. Neben mehreren Porträts Mahlers findet sich dort das Gemälde „Begräbnis von Gustav Mahler“: Vor düsterem Himmel zeigt es einen hellen Hügel und ein leeres Grab, schemenhaft gesäumt von Menschen; der Gedanke an Golgatha liegt nahe. Zur gleichen Zeit, im Juni 1911, malte Schönberg eine „Christus-Vision“: Der leuchtende Körper, seinem Grab entwachsend, scheint jene Mitte zu bilden, die dem „Begräbnis von Gustav Mahler“ fehlt.
Wie sehr Mahlers Interesse an seinem Jünger über den Tod hinaus nachwirkte, zeigt der Briefwechsel, den Schönberg bis an sein Lebensende 1951 mit dessen Witwe Alma führte. Er brachte ihr, die ja selbst komponierte, größten Respekt entgegen und legte ihr sogar einige Kompositionen, etwa die „Glückliche Hand“ und die „Jakobsleiter“, zur Begutachtung vor. Alma wiederum nahm Mahlers noch auf dem Totenbett geäußerte Sorge um Schönbergs finanzielle Lage ernst und richtete eine Stiftung zur Förderung junger Komponisten ein. In deren Kuratorium saß Richard Strauss, der es allerdings lieber gesehen hätte, wenn Schönberg „Schnee schaufeln würde, als Notenpapier vollzukritzeln“. Schönberg entgegnete, die „Mahler-Stiftlinge“ zeigten wohl noch beim Schneeschaufeln mehr Würde als Strauss beim Komponieren.
Arnold Schönbergs Musik ist im Programm des Musikfest Berlin 2015 in einem Reigen von 15 Konzerten, verflochten mit der Musik Gustav Mahlers, zu erleben.