Strömende Klänge zogen sie kurz vor dem Einschlafen immer wieder zurück und warfen sie ans hellwache Ufer. … You know how I feel … Melodiewellen brachen, eine … tired of these scenes … nach der anderen … for the very first time … Das sonore Rauschen überflutete ihre Sinne … hello hello how low how low … es brannte überall, wie Meerwasser in den Augen. River running free … blossom on the tree … could be heroes … how low how low … Melodiefragmente klatschten heran und rollten zurück … I cheated myself like you knew I would … unvollständige Refrains … set fire to my brain … Liedfetzen. Sie atmete ein und wieder aus. … in his jealous sky … Versuchte, ihre Atemzüge zu zählen und darüber in den Schlaf zu schwimmen, doch die Strömung ließ nicht von ihr ab. … lift me like an olive branch … Sie setzte sich auf, schlüpfte in die Schuhe, die sie sich von den Füßen gerissen hatte, als sie vor einer Weile ins Zimmer gestürzt und aufs Bett gefallen war, erschöpft von der lauten Musik, auf der Suche nach schützendem Schlaf, ihrer einzigen Rettung. … hello, hello … just for one day … Die Schnürsenkel widersetzten sich ihren zitternden Fingern, also rannte sie mit offenen Schuhen aus dem Zimmer und dachte nur deswegen an ihren Mantel, weil sie ihn hinter der Tür hängen sah.
Im Flur drängten sich noch immer die Gäste, hin und her wogende Menschen im Gespräch, die unter den dröhnenden Bässen von der Tanzfläche miteinander verschmolzen. … been around the world and I I I … Trotz ihrer Ohrstöpsel konnte sie den Text verstehen, die Vibrationen unter ihren Füßen spüren. … I don’t know and I don’t know why … Sie schlängelte sich durch die Feiernden, hielt den Atem an, den Kopf gesenkt und hoffte, dass niemand sie sähe, hoffte, sie würde nicht schreien. Sie musste raus. Irgendwohin, wo es still war. Oder fast still. Gehen … do it my way … oder rennen. Egal was, solange sie nur den Endlos-Remix in ihrem Kopf abhängte.
Doch sie musste falsch abgebogen sein. Jetzt war sie im Wohnzimmer, dem Herz der Party, wo die Möbel zur Seite gerückt waren, wo eine Discokugel von der Decke hing, wo riesige Miet-Lautsprecher dröhnten und eine winzige Maschine Wolken in die stickige Luft blies, die erst rosa wurden, dann blau, dann grün, während sie auf der Suche nach einem anderen Ausgang durch den Raum stolperte. … treat me like you do … Sie wich der Menge aus. All diese von der Musik vereinten, auf eine elementare Weise miteinander verbundenen Menschen. Und sie am Rand, entfremdet. Dann trat jemand auf ihren losen Schnürsenkel. Sie strauchelte, prallte an tanzenden Körpern ab und taumelte weiter. In diesem Augenblick ungewollter Selbstvergessenheit, als ihre Gedanken ausgesetzt und Arme und Beine ihrer Kontrolle entzogen waren, schien sie zum ersten und einzigen Mal in dieser Nacht einen Moment lang dazuzugehören. Als sie ihr Gleichgewicht wiederfand, hielt sie inne, um den DJ anzusehen, der nickend auf seinem Podest stand, ein Strahlen im Gesicht, während seine Hände in verzückter Vorahnung über den Verstärker strichen. Dieser Anblick reinen Glücks verdrängte kurz ihr Bedürfnis, allem zu entfliehen, doch dann stachen die elektronischen Akkorde wieder nach ihr. … all I ever wanted, all I ever needed … Sie zwängte sich durch die Menge, doch überall war Rauch und Musik, sie konnte keine Wände erkennen. Das ist die Hölle, dachte sie. Niemals endende Musik.
Und plötzlich fand sie eine Tür. Sie schien sich von allein zu öffnen. Jemand trat ein, und im selben Augenblick glitt sie hinaus. Die Kälte schlug ihr entgegen und schnitt durch den Höllenlärm in ihrem Kopf. Sie blieb stehen. Sekunden verstrichen, und der erste Temperaturschock ließ nach. Sie schloss ihren Mantel nicht und war dankbar für die Kälte, die ihr akustisches Fieber linderte. Bald konnte sie die Party wieder hören, die eine in ihrem Kopf und die andere, die echte, die Hochzeit ihrer Schwester, doch beide nur noch gedämpft. Sie hatte den Hinterausgang genommen und war auf der Terrasse gelandet, wo mehrere Leute unter Wolken von Zigarettenrauch herumstanden, die in die Nacht aufstiegen und sich langsam auflösten. Sie wollte hinunter in den Garten, doch nach ein paar Schritten sah sie, dass der Boden ganz weiß war. Wann hatte es geschneit? Wenige Stunden zuvor hatten sie alle auf dem Rasen gestanden, als die Braut und der Bräutigam sich das Ja-Wort gaben. Die untergehende Sonne hatte der Kälte die Schärfe genommen, im Hintergrund glitzerte der See. Sie lehnte sich über das Geländer, blickte auf die makellose Kristalldecke, die sich vor der Schwärze des Wassers noch schärfer und heller absetzte und vor Leuchtkraft beinahe zu zischeln schien. Ach, könnte sie doch in dieses Weiß hineinkriechen. Darin verschwinden. Sie lehnte sich weiter vor. Ihre Haare fielen ihr über das Gesicht. Die Kälte packte ihren Hals und streckte einen eisigen Finger aus, ihren Rücken hinab. Sie wünschte, sie könnte den Überfluss an sich drehender Musik in ihrem Innern erbrechen, und vielleicht würgte sie sogar, denn jemand legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie richtete sich auf, drehte sich um und sah einen Mann, der die Lippen bewegte und offenbar etwas zu ihr sagte.
Seine Stimme war so tief und gedämpft, dass sie kaum zu hören war. Dann fiel es ihr ein: die Ohrstöpsel. Sie zog einen heraus und bekam gerade noch zwei Silben mit: okay? Sie nickte, war sich allerdings nicht sicher, ob sie sich unterhalten wollte, obwohl ihr das mitunter half, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken und das endlose kreisende Summen in ihrem Kopf zu beenden.
Großartige Rede vorhin. Ich dachte schon, ich bekomme gar keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Seine Stimme war tief und rau, wie Schotter auf einer vereisten Straße, und sie merkte, wie sie sich darin verfing, wie sie langsamer wurde. Sie nahm den zweiten Ohrstöpsel heraus und spürte, wie sich ihr Gehör ausdehnte, sich wie eine Hand öffnete, um mehr von den fallenden Tönen aufzufangen. Bald würde es sie in die Luft werfen und jonglieren und Beat-Bälle fallen lassen, die tage- und nächtelang in ihr umhertanzen. … hello … Sie zwang sich, sich auf die Stimme des Mannes zu konzentrieren.
Ich konnte mich kaum noch halten vor Lachen, als du erzählt hast, dass deine Schwester und du glaubten, es heiße Big Bang, weil das Universum mit einem riesigen Musikknall begonnen habe, und dass sie bis heute daran glaubt, weil für sie alles mit Musik beginnt.
Und für mich hört alles mit ihr auf, dachte sie.
Dein Vater war auch sehr witzig. Die Sache mit der Zeitmessung in der Familie, wie deine Schwester mit einem Metronom herumgerannt ist und du mit einer Stoppuhr: Sie hat immer gespielt, du bist immer gerannt.
Weggerannt, dachte sie. Vor einer Familie, in der Harmonie – nicht so sehr als Zustand der Beziehungen untereinander, sondern als musikalische Ausdrucksform – vorherrschte, während sie nur schräge Akkorde kannte und den klaren Tönen ihrer Verwandten stets ein „Miss-“ voranstellte.
Du warst also immer die sportliche von euch beiden. Ist das immer noch so?
Ach, Sport war nur eine Beschäftigung, draußen, weit weg von der Musik. Jetzt bin ich in der Politik, was vielleicht sogar vergleichbar ist, weil es ums Gewinnen geht und weil man Ausdauer braucht.
Politik? In seiner Stimme lag Beklemmung, dann zündete er sich hastig eine Zigarette an, bevor er ihr auch eine anbot. Sie lehnte ab und sagte, sie rauche nicht. Aber warum sonst war sie hier draußen in dieser beschissenen Kälte? Sie wollte gerade antworten, als die Terrassentür aufging und das Summen von drinnen zu einem dröhnenden Gewummer anschwoll … maybe we’re crazy …, als öffne das Haus seinen Mund, um sie daran zu erinnern: Party! Party!
Was meinst du damit, du kannst es nicht ausstehen?
Aushalten. Nicht ausstehen.
Aushalten?
Es ist nicht so, dass ich es nicht leiden kann. Ich kann es nur nicht ertragen. … you must be crazy …
Versteh ich nicht.
Ich … Sie machte eine Pause. … I remember when I remember I remember when … Es ergreift mich – in mir, und dann bleibt es. Zu lange, wollte sie noch hinzufügen, zögerte aber, um die Verwirrung, die seine gleichmäßigen Gesichtszüge bereits durcheinanderbrachte, nicht noch zu verstärken.
Aber wie fühlt es sich an?
… to treat me like you do … Sie blinzelte. Er wartete. … grows cold, grows cold, grows cold … Sie zitterte, beneidete die Zigarette um ihre glühend rote Spitze, um ihr Geborgensein in seinen Fingern, um ihre Gleichgültigkeit der Musik gegenüber.
Es ist, als wäre ich ein Magnesiumband und die Musik eine Flamme.
Bist du high? Seine Augen weiteten sich. Kann ich auch was davon haben? Und als sie lachte, lehnte er sich vor. Zigarettengeruch hüllte sie ein, was erstaunlich beruhigend war, verführerisch. Die Leute schlucken Gott weiß was, um ihr Hirn auszuschalten, und du musst nur ein paar Songs hören und schon bist du weg.
Nur dass ich nicht high werde, sondern eher das Gegenteil davon. Obwohl sie sich merkwürdig geschmeichelt fühlte, als ihre Krankheit als Segen beschrieben wurde.
Ja klar, aber es ist doch heftig, oder? Genau das, was man von Kunst erwartet – man will intensiver und anders fühlen als sonst.
Das Problem ist … there is no such thing in life as normal …, dass nicht nur gute Musik diese Wirkung auf mich hat. Werbejingles, Pausenmusik in Warteschleifen am Telefon, die kitschigsten Soundtracks, Hintergrundmusik im Laden, erbärmliche Coverversionen irgendeines Straßenmusikers – diese Dinge verfolgten sie genau so wie eine erlesene Symphonie oder ein wunderschönes Liebeslied. Sie konnte es nicht verstehen und schämte sich für das mangelnde Unterscheidungsvermögen, das ihre Ohren an den Tag legten. Sie schluckten Töne, als wären sie alle gleich und spielten sie ihr wieder und wieder in unheimlichen, zerrupften Echos vor, die grell und heiß hinter ihren Augen aufblitzten und sich zu Druckknoten im hinteren Teil ihres Kopfes krümmten.
Ich wünschte, ich könnte mich in dein Hirn hineinversetzen.
Sobald der Lärm nachlässt, würdest du es sehr langweilig finden! Hätte sie die Wahl, gestand sie, würde sie die Stille der Musik immer vorziehen.
Musik ist voller Stille. Sie ist um Stille herum arrangierte Melodie.
Ihre Schwester hatte etwas ähnliches gesagt, als sie ihren Einstand beim Philharmonischen Orchester gab. Das gesamte Konzert hindurch achtete sie auf diese winzigen Stillesplitter, so wie man in der prallen Sonne mitunter nach Schatten sucht. Und sie hatte es an diesem Abend vergeblich versucht, als ein Streichquartett das Essen begleitete. Die ganze Zeit hatte sie versucht, das Gefühl hinunterzuschlucken, das die Musik in ihrem Mund auslöste – als laufe eine Metallzunge über ihre Zähne. Musik fragt nicht um Erlaubnis. Sie ist nicht wie andere Kunstformen, bei denen man aufmerksam sein muss, um etwas zurückzubekommen. Bei Büchern, Filmen, Theaterstücken, ja sogar bei Gemälden entschließt man sich, sich darauf einzulassen, man gibt sich hin, und es beginnt etwas zwischen einem selbst und dem Werk. Musik ist immun gegen den freien Willen.
Wieder hatte sich die Tür geöffnet, und einem weiteren Raucher folgte ein bekannter Rhythmus, der einen Text trug, den sie als Teenager gelernt hatte. Es dauerte nur Sekunden, und der Song hatte sie gepackt. … some of them want to use you … Der Atem des Stücks klang warm in ihren Ohren. Sie versteifte sich gegen seine schmeichelnde Nähe.
Keine Chance, dich zu überreden, nehme ich an.
Oh, ich will überredet werden! Aber bei Musik fühle ich mich überfahren. Sie packt dich einfach.
Oder trägt dich. Bewegt, beschwingt, nährt dich.
Dich. Dachte sie.
Es wird dich schon nicht umbringen, oder? Das heißt, die Frage ist, was du bereit bist, aufs Spiel zu setzen. Oder wie viel du zu ertragen gewillt bist.
Wofür? Käme er noch näher, würden sich ihre Nasen berühren. Sie wünschte, er käme näher.
Für – hast du mal versucht … es muss sich doch etwas dagegen machen lassen? Seine Lippen bebten sacht. Sie fühlte ihre eigenen ebenfalls zittern und war sich nicht sicher, ob es an der Kälte lag oder an der Hitze einer unmöglichen Nähe. Wie bei Allergien: Man beginnt mit kleinen, gleichmäßigen Dosen und baut langsam die Toleranz auf.
Mein ganzes Leben war eine einzige lange erfolglose Desensibilisierung! Als sie jünger war, probierten ihre Eltern alles: unterschwellige Klangtherapie, bewusste Versenkung, Überexposition – es gab keine Therapie, die sie nicht kannte.
Everything is going in the wrong direction, sang er. Doctor wants to give me more injections.
Diese Stimme. Sie wollte sich darin einhüllen. Oh, könnte sie doch diese Stimme haben ohne ihre Musik.
Giving me shots for a thousand rare infections, sang er. And I don’t know if he’ll let me go.
Sie erkannte die Melodie, spürte, wie sie warnend an ihrem Bewusstsein entlangkratzte.
Was, wenn du für immer und ewig in Musik getaucht sein müsstest?
Heißt das nicht Folter?
Er lachte, aber sie ahnte darin mehr Enttäuschung als Heiterkeit. Sie nahm an, er konnte wie sie spüren – was sie schon oft, zu oft gespürt hatte –, wie eine Möglichkeit sich wieder zusammenfaltete.
Ich bin wohl nicht für Sinnes-Überfrachtung gemacht.
Das ist so, als würdest du sagen, du seist nicht für die Liebe gemacht. Ist das nicht die ultimative Sinnes-Überfrachtung?
Die eine, die wir alle überleben?
Die eine, nach der wir uns alle sehnen.
… connection … Es krallte sich zurück ins Gedächtnis, hämmerte gegen ihre Sinne, kratzte sie mit ihrer beißenden Wahrheit … connection I just can’t make no connection but all I want to do is to get back to you …
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Die englische Originalfassung des Essays ist im Magazin zum 34. Treffen junge Musik-Szene nachzulesen, das vom 8. bis 13. November 2017 im Haus der Berliner Festspiele stattfindet.