2017 ist ein Monteverdi-Jahr: 1567, vor 450 Jahren, wurde der italienische Komponist in Cremona geboren. Er wirkte an der Schwelle der Renaissance zum Barock, als ein Pionier und Prophet der klassischen Musik heutiger Ausprägung. Monteverdi war also ein Identitätsstifter – und obendrein kreisen die Stoffe seiner Opern um die Frage, wer und was der Mensch ist. Sir John Eliot Gardiner wird aus Anlass des Jubiläums und ideal zum Thema des Sommer-Festivals alle drei Monteverdi-Opern in Luzern aufführen. Susanne Stähr sprach mit dem Dirigenten über den Komponisten und das große Projekt.
Sir John Eliot, Claudio Monteverdi ist der Leitstern Ihres musikalischen Lebens: Er war der Namenspatron Ihrer ersten Chor- und Orchestergründungen, des Monteverdi Choir im Jahr 1964 und wenig später auch des Monteverdi Orchestra. Was fasziniert Sie so an diesem Komponisten?
Für mich ist Monteverdi das musikalische Gegenstück zu William Shakespeare: Er hat es als erster Komponist in der Geschichte der abendländischen Musik verstanden, die ganze Bandbreite der menschlichen Empfindungen einzufangen und darzustellen. Das begann schon mit seinen neun Madrigalbüchern. Aber als er 1607 seine Oper „L’Orfeo” schuf, da entwickelte er eine völlig neue Kunstform – genau so, wie es Shakespeare mit seinen Tragödien, Komödien und Historiendramen unternommen hatte. Hier wie dort finden wir das pralle menschliche Leben, von den nobelsten und göttlichen Charakteren bis zu den niedersten Gestalten. In seinen drei erhaltenen Opern – neben dem Orfeo sind das „L’incoronazione di Poppea” („Die Krönung der Poppea”) und „Il ritorno d’Ulisse in patria” („Die Heimkehr des Odysseus”) – eröffnet Monteverdi psychologische Abgründe: In der „Poppea” geht es zum Beispiel um masslose menschliche und politische Ambitionen, um sexuelle Begierden, um Futterneid und Eifersucht. Keiner vor Monteverdi hatte jemals so etwas in Musik zu setzen gewagt.
„Monteverdi hat als erster Komponist in der Abendländischen Musik die ganze Bandbreite der menschlichen Empfindungen dargestellt.”
Immer wieder wird die Modernität Monteverdis betont. Oder anders gesagt: das Wunder, dass seine Musik nie veraltet. Wie erklärt sich dieser Eindruck von Modernität? Oder ist es eher eine Art von Zeitlosigkeit?
Ich muss wieder auf Shakespeare verweisen, denn dieser Effekt hat mit der radikal subjektiven Dimension von Monteverdis Musik, seiner Klangsprache und seiner Figuren zu tun. Es ist der Mensch mit all seinen Empfindungen, der hier im Zentrum steht. Monteverdi stellt dar, wie Männer und Frauen in der Gesellschaft zusammenwirken, wie sie als Individuen funktionieren, als Liebhaber und Geliebte, als Rivalen und als Paare. Das sind Fragen, die bis heute unvermindert aktuell geblieben sind.
Hinzu kommt, dass Monteverdis musikalisches Equipment, sein „Waffenarsenal”, wenn Sie so wollen, den Beginn des modernen musikalischen Ausdrucks markiert. Er verwendet nicht mehr einfach nur Polyphonie und Kontrapunkt, wie es bei der Vorgängergeneration um Palestrina der Fall war, sondern er erfindet den Basso continuo als das Fundament einer modernen Harmonik. Monteverdi bewegte sich also fort vom modalen zum diatonischen System, das dann für alle späteren Komponisten zum Standard wurde. Noch Haydn, Mozart und Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strawinsky und all die anderen haben seine Errungenschaft auskosten und davon profitieren können. Monteverdi war tatsächlich „The Creator of Modern Music”, wie ihn Leo Schrade in seiner berühmten Monographie genannt hat. Das mag übertrieben klingen, aber ich halte diesen Ehrentitel für absolut gerechtfertigt.
Andererseits: Welche Distanzen müssen wir als Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts überwinden, um zu Monteverdi zu gelangen?
Monteverdi gehörte zu einer ausserordentlichen Generation von Künstlern und Wissenschaftlern, die um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert gewirkt und eine wahre Revolution unternommen haben – ich halte ihre Errungenschaften für bedeutender als die der frühen Renaissance. Ihnen verdanken wir nämlich die heutige Weltsicht. Kunst und Wissenschaften wirkten damals noch nahtlos zusammen, wie auf einem Tandem. Der künstlerische Umbruch wäre ohne einen Galileo Galilei, der übrigens auch aus einer Musikerfamilie stammte, nicht denkbar gewesen: Seine astronomischen Forschungen und mathematischen Beobachtungen untermauerten erst das heliozentristische Weltbild von Kopernikus, das der Welt und damit auch dem Menschen eine neue Rolle zuwies. Aber auch andere Zeitgenossen wären zu nennen, etwa Caravaggio und Rubens in der Malerei oder der Brite Francis Bacon, ein wunderbarer Philosoph und Wissenschaftler, oder der Astronom Johannes Kepler. Wenn man dann noch den Spanier Miguel de Cervantes mit dazu nimmt, der mit seinem Don Quijote den ersten grossen Roman der Geschichte verfasst hat, dann haben wir es mit einer Fülle von Persönlichkeiten aus dieser Epoche zu tun, die uns eine neue, nicht mehr primär christlich orientierte, sondern objektiv und wissenschaftlich fundierte Weltsicht vermittelt haben. Und das steht unserer heutigen Identität doch sehr nahe.
Dennoch: Welche Hürden, welche offenen Fragen zur Geschichte, zur Überlieferung, zur Aufführungspraxis müssen überwunden werden, um den wahren Monteverdi zu entdecken?
Als Besucher einer Monteverdi-Oper braucht man nicht viel Vorwissen, man muss einfach zuhören. Allerdings sollte man unbefangen und ohne vorgefasste Erwartungen an die Sache herangehen. Vor allem sollte man sich nicht auf die Erfahrungen mit der Oper aus dem 19. Jahrhundert stützen. Vergessen Sie einfach alles, was mit Belcanto und Verismo zu tun hat. Vergessen Sie Donizetti, Bellini, Verdi und Puccini, vergessen Sie Wagner und Bayreuth. Bei Monteverdi ist die Oper noch etwas ganz anderes, ein eigenes Genre: viel intimer, kammermusikalischer, mit einem klanglichen Appeal, der so gar nichts mit der opulenten Orchestrierung späterer Epochen zu tun hat.
Als Musiker wiederum muss man natürlich etwas anders an Monteverdi herangehen, da sollte man seine Wurzeln studieren und wissen, woher er kommt. Auch die Klangwelt, in die er seine Werke gekleidet hat, sollte man gut ergründen. Das fängt an mit den Stimmen, die er zum Einsatz brachte, und ihrem Ausdrucksspektrum. Und es ist gar nicht so einfach, denn natürlich besitzen wir keine Aufnahmen aus der Monteverdi-Zeit, wir müssen den Originalklang stattdessen rekonstruieren. Dazu gibt es zwei Quellen: Zum einen haben wir Beschreibungen aus historischen Zeugnissen und Dokumenten, die eine interessante Vorlage bieten. Zum anderen kennen wir die Instrumente, die Monteverdi benutzt hat, und sie vermitteln uns bereits eine Vorstellung des Klangbilds, wie er es wohl auch für die Vokalstimmen wünschte. Natürlich lässt sich das nicht forensisch rekonstruieren, da sich die Stimmtypen im Lauf der Jahrhunderte stark verändert haben. Zu Monteverdis Zeiten waren die Gesangsstimmen sicher nicht so klangmächtig, wie es heute der Fall ist, mit Sängern, die darauf getrimmt werden, selbst das grösste Wagner-Orchester noch zu übertönen. Monteverdis Sänger hatten ein kleineres Stimmvolumen, aber dafür klangen sie reiner und im Ausdruck wohl auch vielfältiger. Das Fehlen des Vibratos, das heute oft wie eine Einheitssauce über die Musik gegossen wird, sorgte vielmehr für eine breitere Palette klanglicher Möglichkeiten und Farben.
„Monteverdi als „The Creator of Modern Music?” Ich halte diesen Ehrentitel für absolut gerechtfertigt.”
Sie werden In Luzern Monteverdis drei überlieferte Opern aufführen. Sind diese drei Werke als ein Zyklus, eine Trilogie zu verstehen?
Ja, das sehe ich so, auch wenn die drei Werke ursprünglich sicher nur Teil einer grösseren Anzahl von Opern gewesen sind, von denen sich die meisten leider nicht erhalten haben – vielleicht hatte Monteverdi neun oder zehn oder gar elf Musikdramen geschrieben. Im Fall von Ulisse und Poppea wissen wir übrigens auch nicht, ob tatsächlich alle Musik daraus von Monteverdi stammt, aber für mich ist diese Frage nicht so wichtig. Tatsache ist, dass alle drei Opern Musikdramen von höchster Qualität sind. Egal, ob man ausführender Musiker oder Zuhörer ist: Sie ergreifen dich einfach, sie nehmen dich von Anfang bis Ende gefangen. Und interessanterweise sind die drei Werke komplementär zueinander angelegt. Deshalb kann ich nur empfehlen, alle drei Abende zu hören: Es ist ein unvergleichlich reiches Erlebnis, das einen da erwartet.
„Egal, ob ausführender Musiker oder Zuhörer: Monteverdis opern ergreifen dich einfach, sie nehmen dich von Anfang bis Ende gefangen.”
Welche Form der Aufführung werden Sie wählen – konzertant oder halbszenisch? Inwieweit wird das Drama im Konzertsaal gegenwärtig sein?
Ich hasse das Wort «semi-staged», das klingt schon so nach einer Halbheit. Deshalb kündigen wir unsere Aufführungen auch nicht als halbszenisch an. Dennoch: Monteverdis Musik ist so ungeheuer dramatisch und theatralisch, dass sie selbst in einem Konzertsaal wie in Luzern eine genuin szenische Qualität erhält. Wer zu uns kommt und glaubt, er werde «nur» ein Konzert hören, der wird sich also wundern – es wird ordentlich mehr sein. Was genau passieren wird, das will ich noch nicht verraten. Aber Sie dürfen einiges erwarten.
Sie widmen sich Monteverdis Schaffen seit mehr als fünf Jahrzehnten. Wie hat sich Ihre Interpretation, Ihre Sicht auf den Komponisten gewandelt im Verlauf dieses halben Jahrhunderts?
Natürlich hat sie sich verändert, nicht radikal, aber unterschwellig. Je länger ich mich mit Monteverdi beschäftige, je eingehender ich ihn studiere, desto mehr wächst mein Verständnis – so hoffe ich jedenfalls. Und vergessen Sie nicht: In den letzten fünfzig Jahren gab es riesige Veränderungen in der Interpretation. Raymond Leppard war einer der ersten, der Monteverdis Opern aufführte, damals in Glyndebourne. Dann kamen die ersten Experimente der historischen Aufführungspraxis, danach die überbordenden Produktionen von Nikolaus Harnoncourt, und heute sind es italienische Gruppen, die Monteverdis Musik wieder zurück in ihr Ursprungsland bringen, back to the roots. Wir haben also einen langen Weg zurückgelegt. Mein eigener Ansatz ist ein internationaler oder kosmopolitaner: Die Besetzung umfasst Musiker und Musikerinnen aus den verschiedensten Ländern, die sich allesamt mit Monteverdi gut auskennen und entsprechende Aufführungserfahrung haben, die aber nicht ausschliesslich auf ihn fixiert sind. Sie werden also kein Schmalspurensemble erleben. Im Zentrum unseres Ansatzes steht die Sprache.
Die Kritiker suchen im Leben eines Dirigenten gern nach verschiedenen Phasen: Sturm und Drang, die mittlere Schaffensperiode, der Altersstil. Wo würden Sie sich denn gerade selbst verorten?
Das sollen andere beantworten, die Kritiker oder auch das Publikum, ich kann nicht in solchen Kategorien über mich selbst urteilen. Allerdings hoffe ich, dass ich heute vieles besser mache. Als Musiker darf man nie die Neugierde verlieren und sollte auch nicht aufhören, noch weiter lernen zu wollen – sonst geht es nur rückwärts. Ich jedenfalls brenne noch immer darauf, Neues kennenlernen und ausprobieren zu können.
Das Interview ist im Jahresmagazin 2017 des LUCERNE FESTVAL erschienen. Mit freundlicher Genehmigung von LUCERNE FESTIVAL
Einziges Gastspiel in Deutschland: Claudio Monteverdis drei große Opern werden unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir, den English Baroque Soloists und Solisten beim Musikfest Berlin 2017 aufgeführt. „L’Orfeo” am 2. September 2017, „Il ritorno d’Ulisse in patria” am 3. September 2017 und „L’incoronazione di Poppea” am 5. September 2017. Die Aufführungen finden in Philharmonie statt und beginnen jeweils um 19:00 Uhr. Kartenvorverkauf ab 4. Dezember 2016