Beim Musikfest Berlin 2020 wird der Film „Moving Picture (946-3) Kyoto Version“ von Gerhard Richter und Corinna Belz zu sehen sein, zusammen mit Live-Musik für Trompete solo und Elektronik von Rebecca Saunders. Der Trompeter Marco Blaauw, der als Solist diese Musik zum Film spielen wird, hat sich mit dem heute 87-jährigen Maler zusammengesetzt, um über Musik zu reden. Heraus kam ein intensives und intimes Gespräch über die Klänge der Kindheit, John Cage und Pop, über Stille und die Parallelen zwischen künstlerischer Abstraktion und Musik.
„Dass es instrumentale Musik gibt, die nichts erzählt, obwohl sie manchmal auch bestimmte Titel hat, das ist für mich eine Legitimation, abstrakt malen zu dürfen.“
Gerhard Richter
Herr Richter, gibt es Klänge aus Ihrer Kindheit, an die Sie sich besonders stark erinnern? Die Sie geprägt haben?
Eher nicht, also nichts Prägendes. Meine Mutter spielte ganz gut Klavier, das weiß ich noch. Und ihr Vater spielte auf einem großen Flügel, davon wurde mit Achtung gesprochen, er war wohl ein sehr guter Pianist.
Wissen Sie noch, was für eine Musik Ihre Mutter spielte?
Ja, mehr so leichtere Sachen, „Komm in meine Liebeslaube, in mein Paradies, denn in meiner Liebeslaube träumt es sich so süß“ (singt). Das habe ich wahrscheinlich oft gehört … solche Lieder waren das.
Wie alt waren Sie damals?
Da war ich zehn oder acht.
Gab es Radio, hatten Sie Schallplatten?
Nein, wir hatten keinen Plattenspieler, nur Radio. Und auf dem Dorf gab es eben nichts mit Musik.
Kein Kirchenchor?
Nein, nichts.
Blaskapellen, die gibt es ja oft im Dorf …
Vielleicht eine Feuerwerkapelle (lacht). Sicher gab es aber diese üblichen Nazi- und Soldatenlieder, die wir dauernd hörten und in der Schule mitsingen mussten. Aber erinnern kann ich mich kaum daran. Meine Mutter vermittelte mir eher etwas Literarisches, zitierte oft Nietzsche und Goethe und so was.
Und in der Schule, gab es da Musik?
Nein, ich wüsste nicht … Ich hatte mal kurz Kunstunterricht. Es war ja eine schwierige Zeit. Wir sind sehr oft umgezogen, immer die Schule gewechselt, und dann war der Umsturz. Da war keine Schule. Danach zwei Jahre aufs Gymnasium, da war ich aber zu schlecht. Und der umständliche, weite Schulweg tat sein Übriges. Immerhin habe ich dann auf der Handelsschule die mittlere Reife geschafft.
Wie hat diese Welt in der Zeit geklungen?
Nicht so nervig wie die heutige. Selbst hier am Stadtrand stört die nahe Autobahn. Und dann natürlich diese motorisierten Gartengeräte.
Gab es Stille?
Auf den Dörfern auf jeden Fall. In der DDR ist das auch lange so geblieben. Ich habe mal meine Schwester besucht und gestaunt, wie dunkel es war, als wir nachts dann wieder zur S-Bahn mussten.
Wie empfinden Sie die Stille?
Ich empfinde sie als angenehm. Wo habe ich das mal erlebt? Als ich das erste Mal alleine in den Alpen gelaufen bin, bis ich plötzlich nichts mehr hörte. Das gibt es! Da kommt man in das nächste Tal, und dann ist da totale Stille. Das ist überraschend, auch etwas unheimlich, aber gut.
Suchen Sie bewusst die Stille?
Ja, doch automatisch … Stille.
Was bringt das hervor?
Ruhe. Sicherlich. Schwer zu beschreiben, auf jeden Fall Beruhigung.
Wenn Sie früher nur selten Musik zu hören bekamen, wirkte es vielleicht viel beeindruckender als heute, wo man überall und ständig irgendwas hört?
O ja, das denke ich. Deshalb haben mich auch dann als Student in Dresden die Konzerte sehr beeindruckt. Der Vater meiner ersten Frau spielte gern Klavier und auch seine beiden Töchter, so klassische Sachen. Das fand ich gut. Später wollte ich auch einen Plattenspieler. Was mich übrigens nie wirklich interessiert hat, war Popmusik. Auch später im Westen nicht. Diese Massenbegeisterung hatte so was Fantastisches, das mich eher abgestoßen hat. Einmal bin ich zufällig in ein Konzert von Pink Floyd geraten, in Berlin. Gestaunt habe ich da nur über die Menschenmenge, nicht aber über die Musik.
Hörten Sie in der Zeit Neue Musik?
In Ostdeutschland wahrscheinlich gar keine. Erinnern kann ich mich nur an irgendwelchen Unsinn, den ich am Klavier machte, beziehungsweise im Klavier irgendwas mit den Saiten machte, Papier oder Gegenstände drauflegen, damit es anders klingt.
Improvisierend?
So kann man das sicher nicht nennen, denn es war ja das absolute Unvermögen, das solche Spielereien hervorbrachte. Andererseits wurde ich sehr stark daran erinnert, als ich später in der Akademie Cage zu hören bekam. Die Live-Begegnungen waren wichtig, vor allem die Fluxus-Aufführungen in Düsseldorf und Aachen und an anderen Orten. Das war für mich ein richtiger Schock, das war gut! Das Stück von Cage mit einem Füllfederhalter, der verstärkt wurde. und all die anderen, das war absolutes Neuland für mich. Wenn ich Musik höre, fallen mir Bilder ein. Das regt mich immer an. Das wird mir in einem Konzert auch besonders deutlich, wo man ja still sitzt. Dann denke ich immer an Parallelen zur Malerei und an mögliche Bilder.
Abstrakte Bilder?
Abstrakte Bilder, nur abstrakt. Dass es instrumentale Musik gibt, die nichts erzählt, obwohl sie manchmal auch bestimmte Titel hat, das ist für mich eine Legitimation, abstrakt malen zu dürfen. Mir fiel das wieder auf, als ich angegriffen wurde wegen meiner „Birkenau“-Bilder. Da schrieb einer: „Der nimmt den Titel, um sie interessant zu machen, die Bilder haben gar nichts damit zu tun.“ Das stimmt eben nicht. Es ist legitim, einen Titel zu nehmen, um jemandem eine Richtung vorzugeben, in die er denken könnte, einen Anstoß. Es ist ja auch so entstanden. Denn das Thema bestimmt ja schon die Art von Malerei, und dann ergibt sich der Titel der Bilder.
Wenn man die Bilder aufhängen würde ohne Titel, würden die Menschen
das nicht sehen?
Man würde nicht auf Birkenau kommen. Da gehört die Geschichte dazu, und ich finde das völlig legitim, dass das so ist, wie der Musik, ohne den Titel würde niemand an „Elise“ denken.
Es nimmt ein bisschen von dem Abstrakten weg, es wird mehr konkret.
Konkret ja, aber das meint nicht direkt gegenständlich. Also ich höre bei einem instrumentalen Musikstück nicht das Knarren einer Tür oder das Weinen eines Kindes, das ist nicht das, was geschildert wird. Obwohl es daran erinnern kann, geht es um eine andere Wirkung, die uns gerade deshalb berührt, weil sie nicht naturalistisch schildert, sondern Musik ist, die eben auf ihre spezifische Weise berührt, tröstet, gefällt, was auch immer.
Ich hatte Sie besucht, als die „Birkenau“-Bilder als Fotodruck in Originalgröße an der Wand hingen, gegenüber von den Gemälden. Und Sie fragten sich, ob die Wirkung der Kopien genauso ist wie die der Originale.
Ja, das ist eine sehr interessante Sache mit einer gewissen Ähnlichkeit zur Musik – ich meine den Unterschied zwischen Konzert und CD. Die Qualität der reproduzierten Musik ist sehr perfekt, und ähnlich ist es inzwischen mit der Reproduktion eines Bildes, die oft kaum noch vom Original zu unterscheiden ist. Was ich so täglich höre, ist doch nie originale Musik.
Sie haben eine große Auswahl an CDs, wie wählen Sie aus?
Das ist immer schwieriger geworden, ich verliere den Überblick. Ich weiß nicht mehr, wo ich was finden sollte, und dann wird es zufällig. Ich hatte dann eine Zeit lang Giacinto Scelsi entdeckt, und das war interessant. Ich habe es gerne gehört. Ein verrückter Typ (lange Stille). Was die Menschen so alles erfinden in ihrer Not, Musik!
Das bietet Trost?
Das bietet Trost, ja.
Malen Sie zu Musik?
Aber überwiegend höre ich keine Musik beim Malen.
Würde Sie das beeinflussen?
Einfluss ist immer da. Als ich die „Cage“-Bilder malte, habe ich sehr viel diese Musik gehört. Und als mich damals Hans Ulrich Obrist besuchte und fragte: „Was ist der Titel?“ Ich sagte: „Ich habe noch keinen“ „Was hast du denn gehört?“ – „Cage.“ – „Das ist doch ein schöner Titel“ Das war eine sehr erfreuliche Titelfindung.
Das ist ein Einfluss!
Ja, der ist nicht ständig da, aber oft stört er auch, selbst wenn der Lautsprecher nur im Nebenraum steht. Aber ob das einen direkten Einfluss hat … die Haltung entspricht dem irgendwo. Aber Musik bringt nicht die Haltung, sondern die Haltung bringt die Musik und dann das Malen. Es ist nicht so, dass ich nach Musik male, aber in einer bestimmten Stimmung wähle ich dann die Musik, und das Malen entspricht dieser sowieso.
Wie entstehen Ihre Bilder?
Am leichtesten geht immer der Anfang. Ich habe zwar eine vage Idee über das Format und die Stimmung und die Farbigkeit, bin aber völlig frei, die Leinwand irgendwie zu füllen. Das sieht dann erst mal gut aus, so spontan und strahlend und bunt. Aber schon am nächsten Tag sehe ich, dass es so nicht geht, und da beginnt die eigentliche Arbeit. Da bin ich dann nicht mehr frei, sondern mache, was die angefangenen Bilder wollen. Das kann dann lange dauern, bis das Bild nichts mehr verlangt.
Das Bild wird ein Dialogpartner?
Ja.
Da gibt es vielleicht einen Unterschied zur Musik. Musik und auch Theater und Tanz finden nur statt im Hier und Jetzt, dadurch gibt es keine zweite Chance, um etwas zu verbessern. Sie können nicht übermalen, wie bei den Bildern … empfinden Sie das nicht so, wenn Sie am Klavier sitzen?
Na ja, ich könnte ja meine Klimpereien wiederholen, um sie besser zu machen. Aber da verzeihe ich mir selbst … Bei Bach und anderen Komponisten der Vergangenheit gab es ein Regelwerk. Die Komponisten waren sehr gebunden, sie hatten was zu tun mit der Geschichte, den Vorläufern. Es kommt aus einer Tradition. Und die kann man ganz einfach überwinden, wenn man gar keine Noten lesen kann und dafür irgendwie die Saiten bedeckt, um schräge Töne zu erzielen. Irgendwie ist das ein allgemeiner Zustand, der alle Künste betrifft, die ganze Kultur.
Inwiefern?
Ich sehe da bei beiden eine parallele Schwierigkeit. Wahrscheinlich ist das in der bildenden Kunst noch deutlicher. Denn im Vergleich zur Musik, wo man eben noch immer ein Instrument spielen und Noten lesen können muss, braucht ein Maler gar nichts mehr zu können. Die Malerei ist völlig frei geworden, befreit von Kenntnissen, Talenten und Qualitätskriterien. Wir können irgendwas Beliebiges auf die Leinwand setzen, es ist Kunst. Kunst in dem Kontext, den wir schaffen.
Das klingt ja fast ironisch: einen Strich machen, aufhängen und Kontext machen.
Stimmt. Aber trotzdem gibt es eine Qualität, um die es eigentlich geht. Selbst ein simpler Strich kann gut sein oder schlecht.
Es kommt also nicht nur auf den Kontext an, sondern man kann den Strich zwischen anderen Strichen auch sofort als gut erkennen?
Nicht sofort, denn man muss ja auch empfänglich sein. Die Musik hat dafür einen besseren Begriff, da sagt man, jemand ist musikalisch oder eben unmusikalisch. So eine Bewertung fehlt in der bildenden Kunst, denn sagen, dass jemand gucken kann oder was von Malerei versteht, ist nicht sehr treffend.
Was macht diese Qualität aus?
Das ist schwierig, das ist eigentlich nicht erklärbar. Beschreiben lassen sich doch immer nur die Umstände von Kunst, aber nicht sie selbst, also nicht diese Qualität, für die man seine spezifische Empfänglichkeit haben muss. Zum Beispiel musikalisch sein, um Musik zu mögen oder gar zu machen.
Wie erleben Sie es, wenn Sie in einem schönen Museum einem Werk begegnen, das Sie vollkommen finden? Wie nehmen Sie das auf?
Tja. Das ist ein erhebendes Gefühl.
Wie lange dauert das an?
Die Stimmung hält eine Weile an, es tut dann auch gut, wenn man das schöne Museum verlassen hat. Also es ist etwas schwieriger, man kann schon mal Tränen in die Augen bekommen, aber nicht so wie bei Musik. Die ist überwältigend, die Wirkung.
Hat das auch mit dem Element Zeit zu tun? Wie lange verbringen Sie mit einem Bild?
Zwei Minuten (lacht). Mich hat das schockiert, und mir hat gefallen, was Dan Flavin gesagt hat: „Kunst ist ein Sekundenerlebnis“ Fand ich einen ganz guten Spruch.
Bildende Kunst?
Ja. Das ist ungerecht! Man sagt das nicht mehr, „bildende Kunst“. Das ist irgendwie altmodisch. Die nennen sich einfach Künstler. Das sind Künstler, und das sind die Musiker. Aber das ist nicht richtig. Kunst ist ja ein Überbegriff.
Würden Sie empfehlen, mehr Zeit mit einem Gemälde zu verbringen, zum Beispiel mindestens 15 Minuten in Ruhe ein Bild anzusehen?
Nein, es wird nicht besser! Gegenüber der Malerei hat Musik einen wichtigen Vorteil …
Welchen?
Die Musik ist nicht so gefährdet wie die Malerei, in einer so bloßen Unterhaltungskultur zu verkommen. Das liegt sicherlich auch an der deutschen Trennung zwischen U und E, zwischen Unterhaltungs- und ernsthafter Musik. Aber neben der absolut dominierenden Popmusik existieren der klassische Musikbetrieb und daneben die experimentelle, ernsthafte Neue Musik. Jede hat ihr Publikum, und dadurch muss die E-Musik nicht derart billig um Quoten buhlen und sich verrenken. Das halte ich für einen ganz großen Vorteil.
Hat das mit Ihrem Künstlersein zu tun, dass dieser Bedarf an Neuem, an Neuer Musik so stark ist?
Das weiß ich nicht, denn neugierig sind wir doch alle. Weil mit dem Neuen ja auch Hoffnung verbunden ist, die wir brauchen, nötig haben, denn grundsätzlich sind wir hier doch unsicher und ratlos und müssen uns was vormachen. Die Kunst ist schon eine wunderbare Möglichkeit, Hoffnung zu geben. Weil man da an oder in einem sehr komplexen Gebiet arbeitet, das über unseren Verstand geht. Und die Kunst hat uns ja schon viele wundervolle Werke hinterlassen, die eben auch über unseren Verstand gehen. Deswegen mag ich auch die Musikfabrik, die so ernsthaft arbeitet und sich so einer Sache nähert, die größer ist, als wir wissen. Nicht sehr populär, also kaum im Radio zu hören, aber gut.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, Juli/August 2019, S. 30-40. Die Veröffentlichung hier erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Richter, Marco Blaauw und Monopol. Magazin für Kunst und Leben.
In der Veranstaltung „Film & Live-Musik“ am 14. September 2020 um 20:00 im Kino Zoo Palast ist nicht nur der Film „Moving Picture (946-3) Kyoto Version“ von Gerhard Richter und Corinna Belz zusammen mit Live-Musik von Rebecca Saunders gezeigt. Zu sehen sind die Filme „Ghost Trio“ und „Not I“ des Schriftstellers Samuel Beckett, der auch für das Schaffen Rebecca Saunders eine wichtige Rolle spielt.
In unserer Reihe „Musik im Gespräch“ finden Sie auch ein Gespräch zwischen Rebecca Saunders und Marco Blaauw, in dem sie sich auch über das Bild von Gerhard Richter und über die Komposition, die dazu entstanden ist, unterhalten.