Anhand Gustav Mahlers symphonischem Werk betrachtet Alain Platel in „nicht schlafen“ die gesellschaftlichen und politischen Spannungen des frühen 20. Jahrhunderts und findet, dass sie durchaus Ähnlichkeiten mit den Umbrüchen unserer Zeit haben. Nachdem ihn Gerard Mortier, der verstorbene ehemalige Direktor der Ruhrtriennale, zu einer Auseinandersetzung mit Mahler überredet hatte, fand Platel durch die Lektüre von Philipp Bloms Buch „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ einen Zugang zur Schaffenszeit des Komponisten. In einem Interview mit „tanzraumberlin“ spricht der belgische Regisseur über seine Sicht auf die politische Dimension von (seiner) Kunst.

Alain Platel © Chris Van der Burght

Alain Platel, wie hat Philipp Bloms Buch Ihre Arbeit inspiriert?

Das Buch hat mir geholfen, ein Verständnis für den Kontext zu entwickeln, in dem Künstler im Allgemeinen und Mahler im Besonderen arbeiteten, und dafür, wie sensibel er für die Geschehnisse in seinem Umfeld war. Wir haben vor zwei Jahren mit den Vorbereitungen für das Projekt begonnen. Wie Blom die Dinge voraussagt, die schon geschehen sind und gerade geschehen, ist wirklich verblüffend – die Flüchtlingskrise zum Beispiel, oder den Brexit und die Wahl in Amerika. Wenn die Dinge sich zu schnell verändern, erläutert Blom, tendieren die Menschen zu egoistischen Reflexen und es kommt zu extrem nationalistischen Reaktionen, durch die sie sich und ihre eigenen Leute schützen wollen. Damals war es zwar anders, aber es gibt auch Parallelen. Denken Sie nur daran, wie rasant sich die Kommunikationswege verändert haben: Das verunsichert die Menschen. Wir sehen heute ähnlich egoistische und protektionistische Reaktionen.

Wie haben Sie sich in „nicht schlafen“ Bloms Thesen angenähert?

Als Künstler kann man über diese Dinge entweder wortwörtlich reden oder man kann künstlerische Metaphern finden. Und ich finde, dass die Abfolge von Szenen, die wir auf die Bühne bringen, von der Zeit erzählt, in der wir leben. Die Vorstellung ist von einer dauernden Anspannung durchzogen, so als ob etwas Schlimmes bevorstünde, und in vielen Momenten zeigt sich Aggression. Die Tänzer*innen drücken ihre Unruhe aus, ihre Ängste und ihr echtes Verlangen, miteinander in Kontakt zu kommen und neue Formen von Gemeinschaft zu finden. Sie sprechen auch darüber, wie man körperlich miteinander auf intime Weise umgehen kann, ohne dass dies missverständlich gedeutet wird. In „nicht schlafen“ geht es mehr um menschliche Gefühle als um Statements zur politischen Lage.

Also wird die Botschaft von „nicht schlafen“ zwar nicht ausgesprochen, ist aber dennoch präsent?

Es gibt in der Vorstellung eine versteckte Stelle, die ich sehr mag: Ein israelischer Tänzer verspricht einem arabischen Tänzer, dass er ihm nie etwas zuleide tun wird. Ido Batash sagt dies auf Hebräisch und Samir M’Kirech antwortet ihm auf Arabisch, dass er ihm seinerseits auch nie etwas antun wird. Dieses Versprechen machen sie sich gegenseitig zum Geschenk. Das ist sehr konkret, aber kein offenkundiges Statement, es geschieht nur für die Darsteller*innen – und für die wenigen Zuschauer*innen, die beide Sprachen verstehen.

Sie sind als Regisseur und Choreograf Autodidakt – Ihre Ausbildung lag im Bereich der Heil- und Förderpädagogik. Was hat Sie zu Beginn Ihrer künstlerischen Arbeit am Tanz interessiert?

Als wir 1984 les ballets C de la B gegründet haben, war ich sehr von Pina Bausch beeindruckt. Sie verwendete die persönlichen Geschichten der Tänzer*innen als Hintergrund ihrer Arbeiten. Ich dachte mir, dass man das mit jedem machen könnte, nicht nur mit Tänzer*innen. Wir konnten weder gut tanzen noch gut sprechen, wir konnten kein klassisches Theater aufführen – also waren wir gezwungen, mit unseren eigenen Geschichten zu arbeiten. Als wir im Jahr 2006 „vsprs“ entwickelten, veränderte sich meine Arbeit maßgeblich. Zum ersten Mal verwendete ich meine eigenen Erfahrungen mit der Welt behinderter Menschen als Inspirationsquelle. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich den Schauspieler*innen und Tänzer*innen Bilder zeigte. Zuerst lachten sie und fanden es extrem. Später aber erzählten sie mir, dass sie hin und weg waren, weil sie auf den Bildern nicht unbedingt Menschen mit Behinderungen sahen, sondern extrem sensible Menschen, die nicht mit Worten kommunizieren können. Nach „vsprs“ gingen wir in die Tiefen der Gefühle und Emotionen der Tänzer*innen – Dinge, die man nicht mehr mit Worten ausdrücken kann, sondern nur mit dem Körper.

Sie sagen, dass Sie mit „nicht schlafen“ politische Anliegen ausdrücken. Wie gehen Sie mit dem Gefühl einer inhärenten Verantwortung um, die Sie als Künstler offensichtlich empfinden?

Wenn man die derzeitigen Geschehnisse kommentieren will, muss man sich seiner Arbeitsweisen sehr bewusst sein und unterschiedliche Ebenen bedenken. Auf der persönlichen Ebene betrifft das die Art und Weise, wie ich mit Ruhm, Geld und sogar mit Essen umgehe. Auf der Unternehmensebene müssen wir uns fragen, wie wir die Arbeit so organisieren können, dass die Menschen miteinander einen Dialog führen können. Wir versuchen, unsere Ideen oder unser Studio mit so vielen Menschen zu teilen wie möglich. Es ist nie ideal, aber wir gehen damit sehr bewusst um. Die Tänzer*innen bringen alle ihre unterschiedliche Herkunft in die Arbeit ein. Wenn wir mit den Proben beginnen, weiß ich nicht, wo wir letztlich landen werden, deshalb versuche ich, alles so offen wie möglich zu halten. Ich erkläre den Tänzer*innen immer, dass der Probenprozess und die Gastspielreisen eine Möglichkeit bieten, zeitweise in einer Utopie zu leben: kreativ miteinander umzugehen, aus einem Gefühl von Respekt und Empathie heraus. Und schließlich ist da mein Status: Ich kann Statements machen, die gehört werden. Eine Vorstellung kann ein politisches Statement sein, und auch wenn ich es nicht so ganz eindeutig sagen will – man kann einen Titel wie „nicht schlafen“ auch so interpretieren: „Wir sollten gerade in diesen Zeiten nicht einschlafen“.

Das Interview mit Alain Platel ist erschienen im Magazin „tanzraumberlin“ Januar/Februar 2017 in englischer Sprache. Die hier verwendete Übersetzung stammt von Elena Krüskemper.
nicht schlafen“ ist am 14. und 15. Januar 2017 bei den Berliner Festspielen zu sehen.