Ich beginne die Reise auf den Spuren Carl Nielsens auf der Insel Fünen, der drittgrößten Insel Dänemarks. Mit knapp 500.000 Einwohnern auf 3.000 Quadratkilometern ist sie die am stärksten besiedelte Region Dänemarks nach Kopenhagen. Carl Nielsen wurde südlich von Odense, der Hauptstadt Fünens, in dem Örtchen Sortelung am 9. Juni 1865 geboren. Das Geburtshaus und auch das Haus seiner frühen Kindheit existieren nicht mehr. Dagegen ist das Haus seiner späteren Kindheit in dem Dorf Nørre Lyndelse erhalten. Es beherbergt heute ein Nielsen-Museum in Fünen – ein weiteres ist in einem Teil der Konzerthalle von Odense untergebracht – mit zahlreichen interessanten Dokumenten, Fotos und persönlichen Gegenständen wie der Geige des Vaters. Eindrücklich spürbar ist hier die Armut, unübersehbar aber auch die große Bedeutung der Musik im Leben der Familie. Die heutige Gepflegtheit des Hauses mit seinem hellen, freundlichen Anstrich lässt kaum erahnen, wie bedrückend das Leben in den niedrigen kleinen Räumen gewesen sein mag – immerhin lebte hier eine Großfamilie auf engstem Raum zusammen: Carl Nielsen ist das siebte von zwölf Kindern des Landarbeiters und Malers Niels Jørgensen und seiner Frau Maren Kirstine Jørgensen.
In diesen Wänden also hat der junge Carl Nielsen gegeigt – die Geige war ein Geschenk der Mutter zum 6. Geburtstag –, und schließlich auch geflötet und trompetet, um mit 14 Jahren Mitglied der Militärkapelle in Odense werden zu können. Schon Nielsens Vater war Volksmusiker und sein erster Geigenlehrer, mit ihm zog er los zu Tanzabenden, Festen und Feierlichkeiten. Nielsen hat diese Folklore inhaliert, sie hat ihn geprägt und nie mehr losgelassen. Davon zeugen seine vielen komponierten Volkslieder, die heute zum dänischen Allgemeingut gehören und nicht nur in Kindergärten und Grundschulen gesungen werden. Sie gehören so selbstverständlich zur dänischen Musikkultur, dass vielleicht nicht einmal jedem Dänen bewusst ist, dass er seinem Kind ein Lied von Carl Nielsen zum Einschlafen vorsingt.
In dieses Haus seiner Kindheit in Nørre Lyndelse wird Nielsen seine Ehefrau, die Bildhauerin Anne Marie Brodersen führen, gleich nach ihrer Hochzeit, die im Mai 1891 in Paris stattgefunden hat, und kurz bevor die alten Eltern das Haus im Herbst des gleichen Jahres verlassen. Wie wichtig war ihm offenbar dieser kleine Flecken Erde in dieser etwas weitläufigen, wenig aufregenden, wenn auch sehr grünen Landschaft! Auch der berühmte Märchenerfinder Hans Christian Andersen ist hier auf Fünen geboren, der mit seinen über 150 Märchen der meistübersetze Dichter Dänemarks geworden ist. Etwas also muss diese leicht hügelige, ruhige Landschaft in sich tragen, dass unruhige Geister wie Carl Nielsen und Hans Christian Andersen von hier aus ihre Flügel spannten.
Dieses Haus der Kindheit von Carl Nielsen markiert den Auftakt einer Lebensreise, die ihn zum dänischen Nationalkomponisten werden ließ. Für das Jubiläum werden die Risse in der Wand gekittet und liebevoll repariert. Alles soll glänzen, wenn Dänemarks Komponist Carl Nielsen seinen 150. Geburtstag feiert und seine Musik über die Grenzen Dänemarks strahlen soll.
Die sechste Symphonie kann für die Phase der Kindheit im Leben von Carl Nielsen stehen. Er komponierte sie, bevor er „Meine Kindheit in Fünen“ schrieb, im Alter von 62 Jahren. Wenn dabei auch der verklärende Blick des Alters und auch das Kreieren eines Selbstbildes mit hineingespielt haben, diese Erinnerungen geben einen tiefen Einblick in seine Kindheit und damit in Nielsens Prägungen und Werte, die sein Leben als Komponist mitbestimmen sollten. Sicherlich hat er mit dieser Autobiografie auch zu seiner Rezeptionsgeschichte als Nationalkomponist Dänemarks beigetragen.
2. Satz aus der 6. Symphonie „Sinfonia Semplice“ Homoresque-Allegretto
„Die Humoresque beginnt mit drei kleinen Percussioninstrumenten – Trommel, Glockenspiel und Triangel, die sich daran machen, die größeren scheinbar in Schlaf liegenden Instrumente aufzuwecken. Diese drei kleinen Kreaturen besitzen wenig Verstand, sind kindlich, niedlich und unschuldig. Sie beginnen mit ihrem bim-a-lim-a-bim und ihrem zarten bom-bom-bom … sie steigern sich in ihrem Enthusiasmus und endlich sind sie soweit die anderen zum Mitspielen zu bewegen: die Klarinette, die Piccoloflöte und das Fagott. Aber die drei kleinen, ja unschuldigen Instrumente kümmern sich nicht um die dann plötzlich erklingende moderne Musik. Sie schlagen sie fort: stop, stop, sagen sie. Bis es schließlich geschehen ist um die moderne Musik. Aber dann beginnt die Klarinette zu spielen, eine kurze, kindgleiche Melodie und da halten die drei Percussioninstrumente Ruhe und hören zu!“
– Carl Nielsen
Die 6. Symphonie erklingt beim Musikfest Berlin zur Eröffnung des Nielsen-Schwerpunktes am 9. September in der Kammerorchesterfassung von Hans Abrahamsen (2009), gespielt vom Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung des dänischen Dirigenten Thomas Søndergård.