Die Halbkugel der Kuppel nutzen Metahaven als Parabel auf Kindheitserinnerungen und klimatische Kreisläufe, auf Wiederholung von Gegenwart und Vergangenheit. In „Elektra“ verbinden sich Animation und Realfilm mit einer eigens komponierten Musik von Kara-Lis Coverdale. Luiza Prado schreibt in ihrem Essay über die erste Fulldome Arbeit des Kollektivs, die im Rahmen von „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“ am 13. August im Planetarium Hamburg Weltpremiere gefeiert hat und im Rahmen der Berlin Art Week ab dem 11. September in Berlin zu sehen ist.

2010 stellte der Filmemacher und Kulturtheoretiker Manthia Diawara seinen Film „Édouard Glissant: One World in Relation“ vor. Diese Dokumentation in Spielfilmlänge begleitet den Dichter, Philosophen und Essayisten aus Martinique auf einer Reise von Southampton in England über den Atlantik nach New York. In einer Schilderung seiner Erlebnisse während des Drehens schrieb Diawara: „Ich nutzte unser Gespräch über das Kino, um Glissant zu fragen, ob es seiner Meinung nach Mittel zur Vereinfachung seiner Ideen für eine allgemeinere Darstellung an amerikanischen Universitäten gebe […]. Glissant sah mich lächelnd an und sagte, er würde an meiner Stelle warten, bis wir uns in der Mitte des Atlantiks befänden, und dann die Kamera auf dessen Wassermassen und unendliche Tiefen richten. Wenn es nach ihm ginge, würde der ganze Film nur aus dieser einen Einstellung bestehen.“[1]

In diesen endlosen Wassermassen des Altantik, wo die Moderne gewaltsam zur Welt kam, nahmen auch Glissants Überlegungen zu einer Poetik der Relation Gestalt an. Das Kommen und Gehen des Meerwassers war für ihn Inbegriff des endlosen Bindens und Lösens von Knoten, aus denen unsere Welt besteht. Der mal hierhin, mal dahin führende Lauf des Wassers lässt sich nur bis zu einem gewissen Grad vorhersagen. Wie die Erinnerung stellt das Wasser sich in immer neuen Formen ein und kann jederzeit in verschiedene Richtungen zugleich laufen. Von seiner Poetik der Relation sagt Glissant, dass diese „sich flicht, dass sie nicht mehr hinaus- und vorstößt, sondern sich in eine Kreisläufigkeit fügt. Gleichwohl nehmen wir dabei nicht mehr Bezug auf einen Rundkurs, einen gerichteten Tatendrang, der bloß immer wieder zu seinen Anfängen zurückkehrt. In Wahrheit ist keinerlei einheitlicher Entwicklungsverlauf, wie krumm oder verfälscht er auch sei, noch zu gebrauchen.“[2] Ergänzend beschreibt Diawara Glissants Relation als das, was „über den Gegensatz-Diskurs des Ichs und des Anderen hinausgeht und sich stattdessen eines neuen Bildes der Differenz im Sinne einer Ansammlung von ‚Unterschiedlichkeiten’ bedient.”[3] Das Denken der Relation verwirft das traditionelle westliche Festhalten an Herkunft und Legitimität, an der Dynamik zwischen Zentrum und Peripherie, um stattdessen einen Weg der Irrfahrt einzuschlagen. Es ist eine Poetik, die sich von der Pflicht zur lückenlosen Offenlegung und Lesbarmachung befreit und ein Recht auf Undurchschaubarkeit einfordert.

Wie findet man nun einen Weg zwischen den Markierungen unendlicher Dichte, die sich aus einem relationalen Zugang zur Welt ergeben? Eine Möglichkeit böte vielleicht ein Verfahren des Knotens und wieder Entknotens, den Gezeitenströmen und Verläufen des Meerwassers folgend. In Metahavens jüngstem Werk „Elektra“ wird das Katzenwiegen oder Abnehmspiel, bei dem man mit einem Faden zwischen den Fingern, Händen und Handgelenken eine Folge von Figuren flicht, zum Sinnbild der vergänglichen, verknoteten und provisorischen Natur unserer ineinander verflochtenen Lebensgeschichten, Gegenwarten und Zukünfte. Das Abnehmspiel ist zwar überall verbreitet, doch es fehlt ihm interessanterweise jeder universelle Anspruch. Seine Funktionen und Bedeutungen, seine Verknotungen und Entknotungen, bleiben undurchschaubar, eine sanfte Verweigerung gegenüber der Transparenz. Ohnehin ist das Spiel von vornherein heterogen mit seinen verschiedentlich verbreiteten, variablen, nur durch dünne Fäden zusammengehaltenen Figuren- und Bewegungsfolgen. Die Philosophin Donna Haraway beschreibt es als „ein unerbittlich relationales Handeln, kein Ding. Es ist eine Art zu schreiben, zu spielen; ein spekulatives, fabulierendes Tun, eine Vorführung, und immer spielen viele dabei mit. Es ist kollektives Schaffen-Mit.“[4]

Die Fadenfiguren entstehen durch das Verflechten von Fingern und Händen und Handgelenken, durch das Weitergeben und Abnehmen unter den Beteiligten. Es erfordert Übung, sie zu erlernen, und Geduld, Berührung, Zärtlichkeit, solche feinsinnigen Kenntnisse weiterzugeben. Muskel- und Bewegungsgedächtnis als Materialisierungen, als ein Hervorbringen von Welt; wie der Tanz handelt das Fadenspiel von etwas, das man nicht sagen kann. Es steht für eine Art Erinnerung, die in einem tieferen, verborgenen Teil unserer selbst nistet. Auch wenn man es jahrelang nicht gespielt hat, stellt man mitunter überrascht fest, dass einige Figuren und Variationen mühelos abrufbar sind. Umgekehrt kann der Versuch, sich auf den mäandernden Pfaden der Fäden zurechtzufinden, oft auch Frustrationsschübe auslösen– und damit vielleicht etwas über unseren Umgang mit Herkunft und Legitimität dieses in Knoten materialisierten Wissens verraten. Fadenfiguren sind Erzähltechniken; sie sind Strategien oder Karten, um sich in Umwelten zurechtzufinden; sie sind Verfahren, um einzelne Lebens- oder Landesgeschichten weiterzugeben; sie sind Entwürfe möglicher Zukünfte. Das Fadenspiel umkreist die Sprache, gibt die Welt aber auf eine Art wieder, wie diese es nicht kann. Keine Figur gleicht je vollkommen der anderen. Erinnerungen ähnlich, handeln sie von dem, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Dieses Spielen ist nie festzumachen. Es widersteht kolonialem und kapitalistischem Drang zur Vorherrschaft, Kontrolle, Besitzergreifung. Gehören kann es niemandem, nur mitteilen lässt es sich. „Sobald Besitz ins Spiel kommt“, schreibt Haraway, „erstarren die Fadenfiguren zu einem Lügenmuster. […] Das Abnehmspiel nährt ein Bewusstsein für das gemeinsame Schaffen und dafür, dass kein einzelner Mensch allein alle diese Figuren herstellen kann. Man gewinnt beim Abnehmen nicht. Der Zweck des Spiels bleibt offen und ist interessanter als Gewinnen oder Verlieren.“[5]

In „Elektra“ werden durchgängig Erinnerungen an das Spielen in einem Park an einem Sommertag beschworen und mit dem scheinbaren Widerspruch eines sommerlichen Schneefalls verwoben – letzterer als die stets erahnbare, drohende Klimakatastrophe, die mit schmerzhafter Dringlichkeit jene zarten Erinnerungsfragmente zerreißt. Eine Welt an der Schwelle zum völligen Zusammenbruch, Gezeiten anhaltender Spannung; Erinnerungen von weit verstreuten Zeitpunkten her, die keine Bahn einer Entwicklung mehr beschreiben, in denen Nachfolger*innen und Vorfahr*innen ineinander übergehen wie die Arpeggien den Klangraum im Film fadenspielartig punktieren. Auf Herkunft und Abstammung kommt es nicht mehr an. An die Stelle der Legitimität tritt, wie Glissant sagt, die Kontingenz.

Kraft seiner Irrfahrt bricht der Film „Elektra“ mit der universalisierenden Vernunft und dem Drang, alles einander anzugleichen. Es gibt kein Reiseziel, keinen geraden Weg, keinen besonderen Ort, an dem er sein oder spielen muss. Ein Kind geht allein im Wald. Dass es geht, ist wichtiger als die Richtung, die es nimmt. Ein Kind wickelt ein Garnknäuel ab wie eine gestohlene Sonne, um daraus neue Knoten, neue– plurale, nie dagewesene, mehrdimensionale– Welten zu machen. Ein Kind klettert auf eine Kuppel – da ist eine Kreisläufigkeit in seiner Bewegung, eine Verwurzelung in seinem Umherirren. Denken wir aber daran, dass der Bruch mit dem Universalisierungsimpuls es nicht bei abstrakten Gesten belassen kann. „Wie die Relation keine reine Abstraktion anstelle des alten Begriffs vom Universellen ist“, schreibt Glissant, „so beinhaltet und gewährt sie auch keinerlei ökumenische Gleichgültigkeit“.[6] In der Relation gehören wir alle dazu. Bleibt nur die Frage, wie.

Die Zeit fließt in alle Richtungen, wie das Meerwasser, wie das Kind Abnehmen spielt. Im Moment ist alles lebendig, sieht sich alles um, ist alles im Fluss.

 

[1] Manthia Diawara, „Édouard Glissants Weltmentalität. Un monde en relation. Eine Einführung“, South as a State of Mind, 6/2017, documenta 14.

[2] Édouard Glissant, „Poétique de la Relation“, Gallimard, Paris 1990, S. 45.

[3] Diawara, wie Anm. 1.

[4] Donna Haraway, „Modest_Witness@Second_Millennium. Female Man©_Meets_OncoMouse™. Feminism and Technoscience“, Routledge, New York 2018, S. 39.

[5] Ebd.

[6] Glissant, wie Anm. 2.

Mit neuen Arbeiten von Agnieszka Polska, Metahaven und Robert Lippok & Lucas Gutierrez sowie Live-Konzerten von Richard Reed Parry (Hamburg), Dasha Rush und Robert Lippok & Lucas Gutierrez (Berlin) geht die 2018 eröffnete Reihe „The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“ in ihr zweites Jahr. Der neue Werkzyklus feierte am 13. August 2019 seine Weltpremiere in Kooperation mit dem Internationalen Sommerfestival Kampnagel im Planetarium Hamburg. Ab dem 5. September 2019 sind die neuen Arbeiten im Rahmen der Berlin Art Week im Mobile Dome auf dem Mariannenplatz in Berlin zu sehen.