„Time as we know it just does not exist in the digital universe. A computer is not operating on time, it just operates on sequence. The implication of that is that this other world exists now, and it is not tied to our form of time at all.“
George Dyson
In der Zeit vor dem Crash gab es keine Zeit. Es gab nur Raum. Ein Beispiel: 1999 fand in Berlin unter dem Titel „Wizards of OS“ ein Kongress zum Thema Freie Software statt. Mit dem Internet-Boom war das Konzept der freien Software auch in Wirtschaftskreisen schnell von einer Randposition ins Zentrum gerückt. Das angepeilte rapide Wachstum ließ sich nämlich nur mit offenen Standards und schnell rekombinierbaren freien Programmen verwirklichen. Beobachtern der Szene war klar, dass sich die ökonomischen Grundlagen nicht nur in der IT-Welt ändern würden, und zwar schnell.
Der Informatiker Rishab Aiyer Ghosh etwa hielt in Berlin einen Vortrag über sein Konzept der Cooking Pot Economy. Freie Software sei wie ein Eintopf, in den jeder Zutaten hineingeben könne. Da alles frei kopiert werden könne, sei dieser Eintopf unerschöpflich und das alte Problem der Tragik der Allmende gelöst: Nun könne das Gemeingut von egoistischen Akteuren nicht mehr so schnell übernutzt und somit zerstört werden. Im digitalen Raum dehnte die Allmende sich mit jedem neuen User, mit jeder neuen Zeile weiter aus. Rishab Aiyer Ghosh war mit seinen Ansichten nicht allein. Das Internet, so hieß es in den Jahren der New Economy, sei ein eigener Raum mit eigener Logik und eigenen Gesetzen, auf den die Erfahrungen des „Real Life“ nicht ohne weiteres angewendet werden könnten. Unterstützt wurde dies durch ein Wiederaufflammen eines dezidiert libertären und anti-etatistischen US-amerikanischen Pioniergeists, zusammengefasst in der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“, die John Perry Barlow 1996 im Netz veröffentlichte.
Cyberspace und Popkultur
Barlow griff dabei mit dem Begriff „Cyberspace“ auf einen Topos aus der Popkultur zurück, der schon seit Mitte der 1980er Jahre durch die erfolgreiche Arbeit von Autoren wie William Gibson, Bruce Sterling oder Neal Stephenson fest etabliert war. Diese Welt sollte nicht nur den Megakonzernen gehören, sondern auch Hackern, die ihre ökologischen Nischen durch freie Kopierbarkeit ihrer Werke innerhalb kürzester Zeit zu äußerst profitablen eigenen Reichen ausbauen konnten. Das Internet als Cyberspace war eine Chance, eine Verheißung auch für jene, deren Ideen im „Real Life“ an die Ränder gedrängt worden waren. Der Hacker als „Wizard of OS“ würde eine Schwelle überschreiten, sich in eine vollkommen andere Welt begeben.
Wer das Netz benutzte, für den fielen – scheinbar und tatsächlich – sehr viele Restriktionen der Gesellschaft, des Nationalstaats weg, und zwar alle auf einmal; eine ganze Generation früher Nutzer von Computernetzwerken erlebte dies bewusst als einen Moment der Befreiung. Man loggte sich auf einer Maschine am anderen Ende der Welt ein, und das alte Raum-Zeit-Kontinuum war überwunden, ein neues geschaffen. Ein Erlebnis, das sich heute, speziell in der Ära nach Snowden, nicht mehr nachvollziehen lässt, das aber damals in seiner Intensität durchaus den Charakter einer religiösen Erfahrung annehmen konnte und das Leben sehr vieler Menschen nachhaltig verändert hat.
Ein Raum ohne Zeit
Schon der Cyberspace-Erfinder William Gibson, eigentlich ein Realist, dessen Science-Fiction-Welten von Megakonzernen beherrscht werden, bevölkerte seinen virtuellen Raum mit Voodoo-Göttern und emergenten künstlichen Intelligenzen, beschrieb somit einen zutiefst fremden Raum, ein Jenseits, in dem auch Tote als abgespeicherte Persönlichkeitskonstrukte weiter mit den Lebenden interagieren. In der popkulturell vorerst wohl wirksamsten Darstellung des Datenraums, der „Matrix“-Filmtrilogie der Wachowski-Geschwister, speist sich das Netz zwar buchstäblich aus der Lebensenergie der in ihm gefangenen Menschen; die messianisch-transzendente Symbolik überformt aber diese materielle Basis, bleibt bis zum Ende dominant, denn die Erlösung kommt aus dem Jenseits, welches klar visuell und logisch vom Diesseits getrennt bleibt. Das Jenseits, so lernt das Publikum, ist ein Raum der Ewigkeit, ein Raum, der ohne Zeit auskommt. Oder umgekehrt: Ein Raum ohne Zeit ist wie das Jenseits.
Zeit spielte im Cyberspace des ersten Internet-Booms wohl deshalb keine so große Rolle, weil sie – gewissermaßen tiefgefroren – in Form von Geld vergleichsweise einfach abgerufen werden konnte. Jeder noch so wahnsinnige Businessplan schien seine passenden Investoren zu finden, AOL kaufte Time Warner, mickrige Startups wie Yahoo oder Netscape wuchsen unglaublich schnell zu respektablen Konzernen heran. Microsoft konnte sich, nachdem es den Internet-Boom lange unterschätzt hatte, mit Unmengen Geld zumindest in den sogenannten „Browser Wars“ gegen Netscape vorübergehend wieder eine dominante Position zurückkaufen. Doch dann kam der Dotcom-Crash des Jahres 2000. In Geld gefrorene Zeit wurde wieder knapp. So ist es bis heute.
Das digitale Universum
Für den Historiker George Dyson ist der Cyberspace bedeutend älter als auch die frühesten Computernetzwerke. Für ihn ist jeder digitale Rechner ein Raum, jeder Silizium-Wafer ein echtes Stück Neuland, das im Nanometer-Bereich eine neue Pioniergrenze eröffnet, jeder Chip ein eigenes Naturtheater von Oklahoma.
In seinem Buch „Turing’s Cathedral“ (2012) beschreibt er Computer und Netzwerke als eigene Welten: „Ein digitales Universum – egal, ob es nur fünf Kilobyte umfasst, oder das gesamte Internet – besteht aus zwei verschiedenen Arten von Bits: Unterschieden im Raum und Unterschieden in der Zeit. Digitale Rechner übersetzen zwischen diesen beiden Ausprägungen von Information – Struktur und Sequenz – gemäß festgelegter Regeln. Bits, die als Struktur dargestellt werden, (die sich im Raum verändern, aber nicht in der Zeit) nehmen wir als Speicher wahr, und Bits, die als Sequenz dargestellt werden, (die sich über einen Zeitraum hinweg verändern, aber im Raum gleich bleiben), als Programm. Logikgatter sind Übergangsstellen, an denen Bits beim Übergang von einem dieser Zustände in einen anderen beide dieser Welten berühren.“
Dyson geht dabei von der Maschine aus, die Alan Turing 1936 beschrieben hat, einem Apparat, der an einem beliebig langen Speicherband hin- und herwandern und dabei nach bestimmten Regeln Zeichen schreiben oder löschen kann. Die Zeit der Turing-Maschine ist linear und begrenzt, im Grunde genommen ist sie ein tayloristisches Gerät.
Das erleben wir gerade jetzt, da „Moore’s Law“, das besagt, dass Mikroprozessoren mit jeder Produktgeneration immer kleiner und leistungsfähiger werden, an seine physikalischen Grenzen stößt – es wird zunehmend schwerer und teurer, die Strukturen von Chips immer feiner herzustellen; damit verliert der wohl wichtigste materielle Treiber der digitalen Revolution in den letzten 50 Jahren seine Kraft. Raum, im Dyson’schen Sinne, unterliegt diesem Problem weniger stark, Speicher kann günstig produziert und den bestehenden Systemen hinzugefügt werden.
Raum ist billig, Zeit ist teuer
Im Netz gilt demnach: Raum ist billig, Zeit ist teuer. Viele der klassischen netzpolitischen Probleme ergeben sich daraus. Totale Überwachung nach Vorbild der NSA etwa, die in riesigen Serverfarmen Zeitpuffer schafft, in denen Ermittler Zusammenhänge suchen und schaffen können, wird erst durch niedrige Speicherpreise möglich.
Der Begriff Cyberspace wird heute gerne belächelt, aber es lohnt sich durchaus, ihn ernst zu nehmen. Für einen klassischen Kybernetiker, der in Regelkreisen denkt, ist es nicht irrelevant, mit welcher Geschwindigkeit die Rückkopplung in einem System vor sich geht. Damit wiederum ist das Problem der Netzneutralität verbunden: Wer soll unter welchen Umständen bestimmen dürfen, welche Daten mit welcher Geschwindigkeit übermittelt werden? Wer bestimmt, mit welcher Geschwindigkeit an Börsen gehandelt werden darf? Auch die Aufmerksamkeitsökonomie ist eine Zeitwirtschaft. Traditionelle Online-Medien und Social Networks wie Facebook oder Twitter tauschen die kostenlose Nutzung ihrer Plattformen ohne den Umweg über Geld scheinbar direkt gegen die Zeit ihrer User – wobei sich die Wertschöpfung hin zur immer feineren Analyse des Konsumentenverhaltens verlagert und die Substanzen des ursprünglichen Tauschs dabei zunehmend ausgehöhlt werden.
Diese Zeitprobleme in Dysons digitalem Universum erscheinen als technische Probleme, deren Lösung von Politikern gerne an geschlossene Technokratenzirkel ausgelagert werden, obwohl sie politischer Natur sind und demokratisch gestützter Entscheidungen bedürfen. Dieses Einkapseln erinnert nicht von ungefähr an den Umgang mit der Finanzbranche, in der es ja auch vor allem um Zeit geht.
Zeit ist abstrakt, nicht so unmittelbar verständlich wie Raum. Raum ist die einfachste Basis für politischen Streit, Zeitprobleme dagegen wirken immateriell, virtuell, sind also Stoff für Experten. Zeit lässt sich nur in Form von Geld einfach in den politischen Diskurs einbringen. Und im Netz ist, wie gesagt, die Zeit vom Geld, das selbst bereits ein Abstraktum darstellt, durch Instrumente entkoppelt, die das menschliche Verhalten messen und deren Ergebnisse nur einer sehr kleinen Gruppe zur Verfügung stehen. Geschäfte mit der Zeit gehen still vor sich, diskret.
Neue Perspektive auf das Netz
Die Anzahl von Menschen, die gut programmieren können, ist begrenzt. Ihre Zeit ist knapp und teuer. Deswegen hat die Cooking Pot Economy nicht ganz so funktioniert, wie man sie sich in den 1990er-Jahren vorgestellt hat. Zeitempfinden und Konzentrationsfähigkeit sind für Programmierer überaus wichtig. Der Informatikpionier Donald Knuth etwa schreibt in der berühmten FAQ auf seiner Website, dass er 1990 seinen E-Mail-Account aufgegeben habe, um sich besser seiner Grundlagenforschung widmen zu können. Auch George Dysons Buch handelt davon, wie Wissenschaftlern an Orten wie Princeton dafür Zeit verschafft wurde.
Wenn im Zusammenhang mit Computersystemen von Zeit die Rede ist, geht es meist nur um technische Aspekte wie Prozessortakt oder Latenz; aber die wirklich für das Netz relevante Zeit ist die Zeit jener Menschen, die konstruktiv in ihm und mit ihm arbeiten. Wenn die im Netz und durch das Netz anstehenden politischen Probleme gelöst werden sollen, dann schadet es nicht, mehr über die Bedingungen nachzudenken, unter denen die Menschen arbeiten, die aus ihrer Zeit den Code machen, den Dyson in seinem Buch beschreibt.
Der Cyberspace ist integrierter Bestandteil unserer materiellen Welt, der nicht nur aus Silizium und elektrischer Energie geschaffen ist, sondern über die Zeit der mit ihm befassten Menschen auch direkt an das Leben selbst rückgebunden ist. Diese Wahrnehmung der Zeit im Internet als Zeit der Menschen hilft dabei, mit der populären Idee des Cyberspace als einem quasi-transzendenten Jenseits zu brechen und eröffnet damit eine neorealistische Perspektive auf das Netz, die erst wieder neue produktive Utopien ermöglichen kann.
Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in der Beilage zur „taz. Die Tageszeitung“ am 27. Februar 2016.
MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016 findet vom 11. bis 20. März 2016 statt.
George Dyson ist zu Gast bei der Konferenz „Time and the Digital Universe“: 12. März 2016, George Dyson: „No Time is There. The Digital Universe and Why Things Appear To Be Speeding” und 13. März 2016, George Dyson: „Darwin among the Machines”