18:18 Uhr
Pünktlich zum Sonnenuntergang, der die große Abschlussveranstaltung von MaerzMusik 2016 einleitet, betrete ich das Kraftwerk Berlin – und bin sehr gespannt, wie es sein wird, nun zum zweiten Mal 30 Stunden in der Zeitblase zu verbringen, die Festivalleiter Berno Odo Polzer erschaffen und mit „The Long Now“ betitelt hat. Beim ersten Mal, vor einem Jahr, erwies sich das zwar als ein Kraftakt, blieb aber auch als eine meiner allerschönsten Erinnerungen aus 2015 bestehen. Nun stellt sich die Frage: Wird diese ungemein beglückende Grenzerfahrung wiederholbar sein? Werden sich neue, andere Erfahrungen einstellen? Oder muss der Versuch, ein bis dato so einmaliges Erlebnis zu wiederholen, in die Enttäuschung führen? Ich bin auf alles gefasst und für alles offen, richte mich zuallererst auf einem der herumstehenden Feldbetten als Basislager ein – die Nacht wird lang werden, das weiß ich noch aus dem letzten Jahr – und streife dann ein wenig durch die verschiedenen Ebenen des Kraftwerks.
18:54 Uhr
Eine der besten Nachrichten des zweiten Durchgangs von „The Long Now“: Die Schaltzentrale ist diesmal beheizt! Im letzten Jahr war dort 24 Stunden lang Leif Inges famose Klanginstallation „9 Beet Stretch“ zu hören, blieb aber leider fast vollständig ohne Zuhörer, da die Raumtemperatur sich um den Gefrierpunkt bewegte. Dieses Jahr ist es lauschig warm, und seit 18:18 Uhr ist dort, wieder für 24 Stunden, Masha Tupitsyns Klanginstallation „Love Sounds“ zu hören. Ich nehme mir fest vor, später für längere Zeit zurückzukommen, und ziehe weiter zu Ebene 4. Da ist es deutlich kälter, aber dennoch freue ich mich beim Blick auf die Leinwand. In den nächsten 30 Stunden und 42 Minuten werden hier die faszinierenden Experimentalfilme des Harvard University Sensory Ethnography Lab zu sehen, und den ersten der gezeigten Filme kenne ich bereits. Er heißt „Leviathan“, Regie führen Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, und er zeigt auf ungeheuer sinnliche Weise Aufnahmen von Arbeit und Alltag auf einem Hochseefischkutter. Aber jetzt schnell rauf zur Ebene 8, wo gleich Marino Formenti mit Stücken von Morton Feldman und John Cage das Programm auf der Hauptbühne eröffnen wird.
20:37 Uhr
Das Kraftwerk Berlin wird nach und nach immer voller – und die Verteilung der Menschen und Feldbetten im Raum folgt völlig anderen Dynamiken als im letzten Jahr. Wo dort das „Handtuchprinzip“ erst mit dem Beginn der Nacht so richtig griff, ist nun nahezu jeder bemüht, sich frühzeitig eine Ruhestätte für die lange Nacht zu sichern. Das führt dazu, dass ein recht reges Treiben herrscht, während Marino Formenti, der das Festival mit seinem Klavierabend „time to gather“ bereits eröffnete, mit zwei Kompositionen von Morton Feldman für den minimalistischen Beginn von The Long Now 2016 sorgt. Zwischen den beiden Stücken steht John Cages „4’33““ – bei drei Sätzen Tacet wird die Geräuschkulisse selbst zur Komposition. Während Formenti noch spielt, verteilen sich die Musiker*innen des nächsten Stücks bereits im Raum und treten an die auf der gesamten Fläche der Ebene 8 verstreuten Notenpulte.
21:06 Uhr
Ekstatisch ist der Moment, als die 58 Blasmusiker*innen gemeinsam einsetzen und die Aufführung von Cages „Fifty-Eight“ beginnt. Gleichzeitig tauchen Scheinwerfer die Decke der Halle, viele Meter über uns, in blauviolettes Licht, und der Klang ist überall um uns herum und füllt den gesamten Raum aus. Gebannt liege ich für zehn, zwanzig Minuten auf meinem Feldbett und lasse mich von den Klängen umspülen, dann beginne ich, durch den Raum zu gehen und mich zwischen den Musiker*innen zu bewegen. Beide Varianten des Zuhörens sind magisch. Da „The Long Now“ auch an die transformative Kraft der Wiederholung glaubt, wird „Fifty-Eight“ morgen Nachmittag noch einmal aufgeführt werden. Ich freue mich jetzt schon darauf.
22:51 Uhr
Ein großes Umräumen setzt ein: Nach dem eher meditativen ersten Elektroset des Abends von Rashad Becker und Moritz von Oswald tritt Festivalleiter Berno Odo Polzer auf die Bühne für die, wie er sagt, erste und einzige Ankündigung der Veranstaltung. Für die folgenden Programmpunkte wird ein großer Publikumszustrom erwartet, außerdem wird es wohl von nun an tanzbarer werden. Jedenfalls bittet er darum, das Areal vor der Bühne zu räumen. Da momentan noch alles mit Feldbetten zugestellt ist, sind in den folgenden Minuten viele, viele Menschen mit unter den Arm geklemmten Betten zu beobachten, die sich einen neuen Ruheplatz suchen. Ich habe mich etwas abseits gehalten – hinten links, zwischen zwei Säulen. Daneben hat sich jetzt Kollege Jonas gebettet, der bereits im letzten Jahr den größten Teil der 30 Stunden mit durchlebte. Über die erprobte und nun erneuerte Schicksalsgemeinschaft freue ich mich sehr. Auf das nächste Konzert auch, denn nun wird es hör- und spürbar lauter und basslastiger. Vorher noch rasch ein Bun Bao Burger in der unteren Ebene – die Versorgung mit Nahrung ist in diesem Jahr deutlich abwechslungsreicher als im letzten, wo ich mich gefühlt 30 Stunden lang von Pulled Pork ernährt habe. Auch diesmal ist es schwierig, bei den diversen Street-Food-Anbietern Fleisch zu erwerben, das nicht „pulled“ ist, aber die Auswahl ist doch etwas größer.
00:16 Uhr
Nach den Intensitätsräumen von Dan Vicente baut das Elektro-Duo Dalhous allmählich grollende, beinahe industrialartige Bassformationen auf. Um mich herum betten sich die ersten zur Nachtruhe, man sieht immer mehr zugedeckt und bewegungslos Liegende auf den Feldbetten. Kein Wunder, es wird kühl. Diesmal hat das Festival vorgesorgt, es gibt ausreichend wärmende Decken zu leihen. In der Folge sieht man ganze Menschengruppen, die ihre roten Decken wie Mönchsgewänder umgehängt haben. Die Besucherschaft von The Long Now, in gewisser Hinsicht ist das ja schon auch eine Art Sekte.
02:53 Uhr
Viele schlafende Menschen, gefühlt vielleicht einige mehr als im letzten Jahr. Bereits seit knapp anderthalb Stunden spielt der norwegische Ambientmusiker Biosphere, dessen Musik Festspiele-Grafiker Pierre Becker, der zu später Stunde noch zu uns stieß, als „seine Jugend“ bezeichnet. Meine nicht, aber sie gefällt mir. Wäre auch eine schöne Jugend gewesen. Kollegin Stawrula, mit der ich zuletzt noch bei einem Glas Wein zusammenstand, freut sich auf ihr heimisches Bett, ich ziehe mich zurück auf meine Liege. Decke und Kissen habe ich – klüger als im letzten Jahr – von zuhause mitgebracht, für den argen Notfall auch noch einen von Omas Strickpullovern. So kalt ist es aber noch nicht. Ich trinke den letzten Schluck Wein aus und bette mich zur Nacht.
06:42 Uhr
Inzwischen läuft „Climata“ von Robert Curgenven, auch dies durchaus ambienthaft und zum Halbschlafen geeignet – ziemlich entspannt in der Anlage, diese Nacht, jedenfalls verglichen mit Phill Niblocks Bassblöcken, die 2015 stundenlang den gesamten Raum des Kraftwerks einnahmen. Heute wirkt das musikalische Nachtprogramm, vielleicht auch an Max Richters „SLEEP“ geschult, das hier in der vergangenen Woche dreimal zu erleben war, dem Dämmerzustand deutlich entgegenkommender. Ich dämmere auch sicherlich sogleich wieder weg, erwische mich aber auch bei dem Gedanken, dass ich das Kontrapunktische und Herausfordernde der Nacht mit Niblock vielleicht persönlich spannender fand.
08:30 Uhr
Jetzt wird es wieder laut! „Abstract pop-scapes“ verspricht BABA ELECTRONICA für seine „cavemusic“, und ich genieße vor allem die flächigen, sich schichtenden, sich immer höher im Raum auftürmenden Bässe, die nun doch noch an meine Nacht mit Phill Niblock erinnern. Ihre Präsenz ist körperlich spürbar, und ich schließe noch einmal meine Augen und lasse mich von ihnen massieren, nun wach und hochrezeptiv, aber unter völliger Ausblendung von allem, was jetzt visuell wahrzunehmen wäre: des Raumes, der Menschen um mich herum. Jetzt bin ich eineinhalb Stunden lang allein mit den Bässen, und das ist sehr, sehr schön.
11:52 Uhr
Seit beinahe zwei Stunden zelebriert nun eine Gruppe von Performer*innen um den norwegischen Tanztheater-Choreografen Mårten Spångberg für ihr Stück „La Substance, but in English“ eine Art buntglitzernden Kindergeburtstag in einem auf liebevoll-trashige Weise vollgemüllten Set direkt neben der Raucherzone auf Ebene 8. Dazu laufen die großen Schlager der Popmusik der letzten paar Dekaden, von Rihanna über Justin Timberlake bis zu Christina Aguilera, voll Inbrunst mitintoniert durch eine Art Karaokesänger, der mit dem Rücken zum Publikum ganz in sich selbst und die Musik versunken scheint. Zweieinhalb Stunden wird die Performance noch dauern, und sie ist recht kurzweilig anzuschauen. Gleichwohl kümmere ich mich nun zunächst einmal um ein spätes Frühstück.
13:06 Uhr
Mårten Spångbergs Performer*innen sind inzwischen in einem hartnäckigen Loop angekommen, zum dritten oder vierten Mal hintereinander ist nun bereits Christina Aguileras „Genie in a Bottle“ zu hören, zu dem sich alle die Seele aus dem Leib tanzen. – Nein, nun wechselt nach einer guten Viertelstunde auch der Song mal wieder. If I was a boy … Ist diese Performance eigentlich queer? Vermutlich ja, bunt genug ist sie jedenfalls. Etwas irritiert ergoogle ich mir ein Porträt Spångbergs im „Guardian“. Das Tanztheater aus dem Pop heraus neu erfinden möchte er, und daher hat er sich auf ein Leben in absoluter Gegenwärtigkeit eingelassen. Sprich: all seine Platten, CDs, Bücher weggeworfen, um nur noch ganz Kontemporäres zu konsumieren. Die Performances, die daraus entstehen, sind stets vielstündig und werden mit WG-Partys verglichen, deren Gäste einfach nicht mehr gehen wollen.
13:47 Uhr
Während Spångbergs Performance gerade mit Vogelgezwitscher langsam ihrem Ende entgegengeht, streife ich ein wenig durch die anderen Ebenen des Kraftwerks, die ich bisher noch etwas vernachlässigt habe. Gemütlich ist es in der Schaltzentrale, wo Masha Tupitsyns „Love Sounds“ noch viereinhalb Stunden zu hören sind – eine Spoken-Word-Arbeit, die mit Found Footage arbeitet und Dialoge aus alten Hollywoodfilmen collagiert und katalogisiert. Im Nebenraum werden Schlagworte zum Thema auf eine große Leinwand projiziert. Als ich gestern erstmals die Installation betrat, war da „Sexual Politics“ zu lesen, nun steht da „Violence – Death“. Es ist trotzdem gemütlich. Weniger behaglich ist es in der Ebene 4, wo weiterhin Film- und Videoarbeiten des Sensory Ethnography Lab zu sehen sind. Dort ist es noch ebenso kalt wie gestern. Ein paar unerschrockene Warmblüter haben sich dort trotzdem auf den Feldbetten ausgestreckt und schauen den Film „Manakamana“, eine Kompilation von zwölf Porträts von Pilgern, Reisenden und Tieren während der Seilbahnfahrt zum hinduistischen Manakamana-Tempel in Nepal. Schade, den möchte ich eigentlich schon lang sehen, aber ich friere zu sehr. Dann lieber wieder zu Spångberg.
16:31 Uhr
Seit gut 22 Stunden bin ich jetzt hier, und eine sehr, sehr schöne Form der Bleiernheit hat sich inzwischen auf mich gelegt. Marino Formenti – der, wie ich soeben erfuhr, bereits gestern seinen Auftritt hoch fiebernd und doch bravourös absolvierte – spielte ein weiteres wundervolles Klavierkonzert von Morton Feldman, und in diesem Moment findet die zweite Aufführung von John Cages „Fifty-Eight“ statt, das mich schon gestern so beeindruckte. Die Wiederholung, die nun im Zustand wachsender Erschöpfung über mich kommt, ermöglicht noch einmal andere, tendenziell halbbewusste Formen des Zugangs. Eine Verschiebung in der Wahrnehmung, die so vielleicht nur im Medium der Musik möglich ist. Wenn ähnliche zeitliche Grenzerfahrungen im Theater oder im Kino versucht werden, können ebenfalls grandiose Erfahrungen dabei herauskommen – mir scheint aber doch, es geht dabei um Anderes.
20:07 Uhr
Nichts geändert hat sich daran, wie seltsam es sich anfühlt, wenn nach über 24 Stunden im Kraftwerk ein neues Publikum erscheint, das sich nicht dem Marathon aussetzt, vielleicht davon auch gar nichts weiß, sondern einfach nur sonntagabends ein Konzert besucht. Wir erschöpften Gestalten, auf unseren Feldbetten ausgestreckt, mögen diesen Besuchern mitunter wie etwas skurrile Zootiere erscheinen, wenn sie sich frisch und in Abendgarderobe zwischen uns ihre Wege bahnen müssen. Der Zustrom frischer Besucher setzte bereits vor drei Stunden ein und verstärkt sich noch immer, auch die Musik ist wieder lauter, tanzbarer, dem Berliner Nachtleben maßgeschneiderter geworden. Sie weckt nun allmählich all diejenigen wieder auf, die zuvor noch einmal kurz weggedämmert sein mögen. The Long Now 2016 nähert sich langsam, aber sicher dem Endspurt.
21:58 Uhr
Langsam fühle ich mich leicht zombieesk. Beim letzten Konzert wurde – zu Recht – viel getanzt, das Set von TM404 war großartig. Aber all den Entschlossenen, die mit mir seit gestern Nachmittag hier ausharren, war es anzusehen, dass sie sich inzwischen in einem anderen Bewusstseinszustand befinden. Tanzen, jetzt? Unvorstellbar! Obwohl, Kollege Jonas und seine Begleitung denken ernsthaft darüber nach, noch ins Berghain zu gehen. Das ist mal schmerzfrei – vielleicht sollte ich ihn beauftragen, im nächsten Jahr den Beitrag zu The Long Now zu übernehmen? Andererseits hat er mir den Plan nun auch bereits vor guten zwei Stunden vorgestellt, liegt aber gleichwohl noch immer auf demselben Feldbett wie zuvor. Die letzte Performance des Hauptprogramms beginnt. Ich klappe den Laptop zu und schaue mich um, ob noch ein paar Kolleg*innen im harten Kern übrig geblieben sind.
23:07 Uhr
Die Party ist in vollem Gange – sowohl oben, wo das Set von Objekt noch zwei Stunden dauern soll, als auch unten im Ohm, wo just in diesen Minuten die Abschlussparty beginnt. Ich beschließe, ein wenig zu mogeln und diesen Beginn als Zäsur zu interpretieren, die die Veranstaltung auch für mich abschließt. Wie ein Gespenst habe ich mich in der letzten Stunde gefühlt, das zwischen Tanzenden und Feiernden herumspukt, und nun freue ich mich doch sehr aufs heimische Bett. Was mir jetzt noch bleibt ist die Beantwortung der einleitenden Frage: War das so beeindruckende Erlebnis des letzten Jahres wiederholbar? Die Antwort lautet: ja und nein. Nein, weil das Gefühl des Einmaligen, Neuartigen, Herausfordernden sich nicht so ohne Weiteres rekonstruieren lässt. Viel besser war ich dieses Jahr vorbereitet auf die Anstrengungen und Bedürfnisse der 30 Stunden im Kraftwerk Berlin – aber eben auch auf die Glücksmomente, die dieser Trip bergen kann. Das nimmt dem Unterfangen, sich selbst für einen solch langen Zeitraum diesem Projekt auszusetzen, natürlich etwas von dem Abenteuerlichen, das es beim Debüt 2015 noch hatte. Und dennoch muss dem gegenüber auch ein entschiedenes Ja stehen, da gerade in der Wiederholung klar wird, was für ein einmaliges Format The Long Now eigentlich ist. Wo es vergleichbaren musikalischen Langzeitformaten am Ende stets darum geht, zwei Tage und Nächte zu tanzen, fächert The Long Now ein breites klangliches Spektrum von Be- und Entschleunigungen, von Dauer und Momenthaftigkeit auf und ist somit in der Lage, Dynamiken zu kreieren, die jedenfalls für mich außerhalb dieses Erfahrungsraumes – dieser „Zeitblase“ – nicht denkbar scheinen.
The Long Now fand vom 19. März, 18:18 Uhr, bis zum 21. März 2016, 01:00 Uhr im Kraftwerk Berlin statt und schloss MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2016 ab.